Der falsche Engel
Fahrt in die Klinik bemühte sich Julia, nicht an ihren Exmann zu denken, aber das Gespräch mit Schura hatte die unangenehmsten
Erinnerungen wieder aufgewühlt.
Sie hatte mit zwanzig geheiratet, im dritten Studienjahr. Der zehn Jahre ältere Oleg Romanow war Chirurg im Botkin-Krankenhaus,
Julia machte bei ihm ihr Praktikum. Alles begann wie üblich. Rasche, vorsichtige Blicke, eine Geburtstagsfeier im Behandlungsraum,
zufälliges Nebeneinandersitzen auf der schmalen Liege, dicht aneinandergedrängt,unsinnige Gespräche voller geheimer Hintergedanken und schließlich, explosionsartig, eine leidenschaftliche Affäre. Nächtliche
Spaziergänge über den Boulevardring, Küsse im Hausflur, endlose Telefonate. Ein romantischer Ausflug ins Waldaigebiet mit
Zelt, Lagerfeuer, Mücken, gerösteten Kartoffeln und Nacktbaden im Morgengrauen.
Nirgends wirkte Oleg so anziehend wie in der Natur. Er konnte in fünf Minuten ein Zelt aufbauen, mit einem einzigen Streichholz
ein Feuer anzünden und auf diesem Feuer unglaublich gutes Schaschlik grillen. In Gummistiefeln und Windjacke, unrasiert und
nach Rauch riechend, war er weit attraktiver als im strengen Anzug oder im weißen Arztkittel. Er hätte Förster oder Geologe
werden sollen. Als Chirurg war er schlecht. Aber ein anderer Beruf als Arzt war nicht in Frage gekommen, denn alle in seiner
Familie waren Mediziner. Sein Vater war Professor für Urologie, seine Mutter Augenärztin, auch Großvater und Großmutter waren
Ärzte.
Als Allgemeinmediziner oder Internist hätte er womöglich durchaus erfolgreich sein können. Aber er redete sich selbst und
anderen mit düsterer Hartnäckigkeit ein, er sei der geborene Chirurg, und niemand außer Julia ahnte, dass er panische Angst
vor Blut hatte. Dieser Verdacht war Julia bereits bei jenem Zelturlaub gekommen, als sie sich an einem Glassplitter den Fuß
verletzt hatte. Aber damals hatte sie Olegs tödliche Blässe und seine zitternden Hände darauf geschoben, dass es ihr Blut
war – bei einem Fremden hätte er bestimmt keinen Schluck Wodka aus der Flasche gebraucht, um die Wunde zu versorgen.
Später stellte sich heraus, dass er vor jeder Operation trank, um seine Phobie zu betäuben, seine Angst vor Blut, eine recht
häufige und eigentlich harmlose psychische Störung, allerdings unvereinbar mit dem Beruf des Chirurgen.
Dass Oleg vor jeder Operation trank, erfuhr niemand außer Julia. Aber eines Tages verloren die Kollegen das Vertrauen in ihn,
dann auch die Patienten. Sofort griff er zum klassischen und ziemlich dummen Selbstschutz – der Verschwörungstheorie. Er meinte,
die Kollegen würden ihn beneiden und die Patienten gegen ihn aufhetzen.
1986, als Schura geboren wurde, legte man ihm nahe, auf eigenen Wunsch zu kündigen. Oleg ging in eine Kreispoliklinik und
versank in den dumpfen Intrigen eines prinzipiell beleidigten Frauenkollektivs.
Auch hier brauchte es natürlich einen Schutzmechanismus – die Suche nach einem Schuldigen. Er suchte nicht lange nach einer
geeigneten Besetzung für diese Rolle, er entschied sich für Julia.
Sie war schuld daran, dass er sich als Chirurg nicht hatte verwirklichen können, denn sie hatte ihm nicht die nötigen häuslichen
Bedingungen und damit ein verlässliches Hinterland geschaffen. Statt um ihren Mann kümmerte sie sich ausschließlich um ihre
Karriere und verbrachte den ganzen Tag im Institut.
Wahrscheinlich hätte sie sich schon damals von ihm trennen sollen, aber Julia war von ihren Eltern dazu erzogen worden, Worte
nicht allzu ernst zu nehmen, zumal, wenn sie im Eifer des Gefechts geäußert wurden. Er ist schließlich kein Idiot, dachte
sie, es geht ihm bloß gerade sehr schlecht. Das gibt sich wieder.
Es gab sich tatsächlich. Julia blieb ein Jahr lang mit Schura zu Hause, kümmerte sich um das Kind und den Haushalt, kochte
Borschtsch für ihren Mann und las nur spätabends in medizinischer Fachliteratur, um einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben.
Mitunter konnte sie bis zum Morgen lesen, denn Oleg kam nun häufig erst im Morgengrauen aus der Poliklinik nach Hause, rosig,
erhitzt wie nach der Sauna und nach fremdem Parfüm riechend.
Er lächelte siegesbewusst, tätschelte ihr herablassend die Wange und aß mit großem Appetit einen Teller Borschtsch. Anschließend
weichte sie in der Waschschüssel sein Hemd ein und streute Waschpulver auf die beigerosa Flecke fremden Make-ups. Und es lief
wunderbar zwischen
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