Der falsche Freund
ab, öffnete ihren BH. Wie dünn und bleich sie war.
Rippen und Schlüsselbein standen deutlich hervor.
»Hier.« Ich reichte ihr das Kleid, und als sie danach griff, bemerkten wir, dass Brendan im Türrahmen stand. Keiner sagte ein Wort. Während Kerry in das Kleid schlüpfte, wurde ihr Kopf für einen Moment von den Falten des Stoffs verhüllt, sodass nur noch ihr magerer Körper zu sehen war, der in seiner Nacktheit und Blässe etwas von einem Opferlamm besaß. Es erschien mir irgendwie pervers, dass sie so vor Brendan und mir stand. Mit einer abrupten Bewegung wandte ich mich ab und starrte aus dem Fenster.
»So«, sagte sie. »Natürlich gehören hohe Schuhe dazu. Und ich werde mein Haar hochstecken und mich schminken.«
»Du siehst wundervoll aus«, erklärte ich, obwohl es nicht stimmte. Das Rot war viel zu kräftig für sie, es ließ sie farblos und unscheinbar wirken.
»Findest du wirklich?«
»Ja.«
»Hmmm«, sagte Brendan. Er musterte sie einen Moment abschätzend, dann huschte ein seltsames kleines Lächeln über sein Gesicht. »Ach ja, unten warten schon alle darauf, mit uns anzustoßen.«
»Wir kommen gleich.«
»Ihr beide vertragt euch also wieder?«
Es war, als hätten seine Worte in mir eine Zündschnur zum Glimmen gebracht, sodass nun eine Flamme der Wut in mir hochschoss. Mit einer heftigen Bewegung drehte ich mich zu ihm um.
»Wir sind Schwestern!«, sagte ich.
Wir starrten uns an. Ich würde ganz bestimmt nicht als Erste den Blick abwenden. In den wenigen Momenten, die wir uns wie gebannt in die Augen sahen, spürte ich in mir nur noch Hass.
Am Freitagmorgen stand ich früh auf, nahm ein Bad, wusch mir die Haare. Anschließend ging ich ins Schlafzimmer und starrte in meinen Kleiderschrank. Was trägt eine Frau zur Hochzeit ihrer Schwester, wenn sie deren Bräutigam hasst und nur wenige Tage zuvor ihr Bruder gestorben ist? Nichts Auffallendes, nichts Knappes, nichts Fröhliches. Andererseits kann man auch nicht in Schwarz auf eine Hochzeit gehen. Ich musste daran denken, wie Kerrys weißes Gesicht aus dem roten Kleid aufgetaucht war. Wie ein Gesicht in einem mit Samt ausgeschlagenem Sarg. Schließlich griff ich nach einem lavendelfarbenen Kleid. Das Oberteil war aus einem feinen Strickstoff, der Rock aus duftigem Chiffon. Eigentlich handelte es sich um ein Sommerkleid, aber wenn ich meine schöne Rohseidenbluse darüberzog, würde es gehen. Ich schminkte mich ein wenig, föhnte mein Haar, legte Ohrringe an, schlüpfte in eine feine Strumpfhose und dann vorsichtig in mein Kleid.
Als ich mich im Spiegel betrachtete, schnitt ich eine Grimasse, weil das Wesen, das ich dort erblickte, so blass und hohläugig aussah.
Ich zog meinen langen schwarzen Mantel an, griff nach dem Geschenk, das ich besorgt hatte, und brach auf. Wir hatten vereinbart, dass wir uns bei meinen Eltern treffen und dann gemeinsam zum Standesamt gehen würden. Es herrschte dichter Verkehr, aber schließlich hatte ich es geschafft. Da vor dem Haus nichts mehr frei war, parkte ich ein paar Türen weiter. Im Laufschritt eilte ich durch den Nieselregen, wobei ich mein Kleid anhob, damit es in den Pfützen nicht zu Schaden kam.
Offenbar warteten sie schon auf mich, denn als ich klopfen wollte, schwang die Tür bereits auf.
»Miranda«, sagte mein Vater.
Verblüfft starrte ich ihn an. Er trug seinen alten karierten Bademantel und war noch nicht rasiert. Hatte ich mich in der Zeit geirrt?
»Wir müssen doch gleich aufbrechen«, sagte ich.
»Nein«, antwortete er. »Nein. Komm herein.«
Meine Mutter saß auf der Treppe. Sie trug ausgebeulte Leggings und einen uralten Rollkragenpulli, den ich schon seit Jahren nicht mehr an ihr gesehen hatte. Als sie uns kommen hörte, hob sie den Kopf. Ihr Gesicht schien nur aus Furchen und Falten zu bestehen.
»Hast du es ihr schon gesagt?«
»Was?«, fragte ich. »Was gesagt? Was ist denn los?«
»Er hat alles abgeblasen.«
»Wie meinst du das?«
»Als Kerry heute Morgen aufgewacht ist, war er nicht da. Um acht hat er sie angerufen und gesagt …« Ihre monotone Stimme versagte. Sie schüttelte sich, als müsste sie erst wieder einen klaren Kopf bekommen, ehe sie weitersprach. »Er hat gesagt, er habe sein Bestes getan, um uns allen zu helfen, aber es habe keinen Sinn. Er sei es leid, uns alle zu stützen, und er könne so nicht weitermachen.«
Ich ließ mich ein paar Stufen unterhalb meiner Mutter auf die Treppe sinken.
»Mein Gott, die arme Kerry.«
»Er hat gesagt«, fuhr
Weitere Kostenlose Bücher