Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der falsche Freund

Titel: Der falsche Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
sie fort, »er habe bei einer anderen die Chance auf ein neues Glück gefunden, und wir würden bestimmt verstehen, dass er darauf nicht verzichten könne. Er müsse ausnahmsweise mal an sich selbst denken.«
    »Er hat eine andere?«, fragte ich benommen. Mir war, als hätte mir jemand einen Schlag auf den Kopf verpasst. Meine Mutter musterte mich argwöhnisch.
    »Du hast es nicht gewusst?« Ich gab ihr darauf keine Antwort, starrte sie nur verblüfft an.
    »Schließlich ist sie deine Freundin«, fuhr sie fort.
    »Nein«, stöhnte ich. »O nein!«

    »Tja«, sagte meine Mutter. »Nun weißt du es.«
    »Laura«, flüsterte ich.

    Ich ging in Kerrys Schlafzimmer. Sie trug noch ihren Schlafanzug und saß in sehr aufrechter Haltung auf dem Bett.
    Als ich mich neben sie setzte und über ihr dünnes, weiches Haar strich, drehte sie sich zu mir und sah mich mit glasigen Augen an.
    »Wie dumm von mir«, sagte sie. »Ich habe mir eingebildet, er würde mich lieben.«
    »Kerry.«
    »Wie unglaublich dumm von mir.«
    »Hör zu …«
    »Er hat immer nur dich geliebt.«
    »Nein.«
    »Und dann deine Freundin.«
    »Kerry«, sagte ich. »Er ist kein guter Mann. Glaub mir.
    Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Du bist ohne ihn besser dran, und ich bin sicher, du wirst …«
    »Sag jetzt bloß nicht, dass ich einen Besseren finden werde«, flüsterte sie mit zornig funkelnden Augen.
    »Entschuldige.«
    »Alles ist ruiniert«, fuhr sie leise fort. »Es war schon ruiniert, als Troy sich umbrachte. Brendan hat nur noch die letzten paar Steine umgestoßen. Nun ist gar nichts mehr übrig.«
    Ich musste daran denken, wie Brendan über meine Familie hinweggetrampelt war, mit seinen Stiefeln all unsere Hoffnungen zertreten hatte. Seufzend legte ich den Arm um meine ältere Schwester, deren dünner Körper nach Schweiß, Puder und Blumen roch. Ihr rotes Samtkleid hing in der Ecke.
    Während ich sie an mich zog und auf den Scheitel küsste, spürte ich Tränen an meiner Wange, konnte aber nicht sagen, ob es meine oder ihre waren.

    Manche Dinge kommen einem rückblickend wie ein Traum vor.
    Dies aber war kein Traum, auch wenn es mir im Nachhinein erschien wie ein Moment außerhalb der Zeit – ein Moment, an den ich mein Leben lang würde denken müssen.
    Ich wachte auf, und obwohl noch nicht richtig Tag war, erfüllte ein weiches Licht den Raum. Rasch sprang ich aus dem Bett, zog die Vorhänge zurück und starrte auf eine Welt aus Schnee. Es fielen immer noch große Flocken, lautlos glitten sie auf der anderen Seite des Glases nach unten. Ich schlüpfte schnell in ein paar warme Sachen, lief die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Alles war dick verschneit, die Straße, die Autos, die Mülltonnen, die Gartenmauern. Die weiße Pracht war noch fast unberührt, nur hie und da entdeckte ich Abdrücke von Katzenpfoten oder kleinen Vogelkrallen. Das Gewicht des Schnees drückte die Äste der Bäume nach unten, und während ich den verschneiten Gehsteig entlangmarschierte, gingen zu meinen Füßen immer wieder kleine Schneeschauer nieder.
    Flocken blieben in meinen Wimpern hängen und schmolzen auf meinen Wangen. Die Welt war monochrom, wie eine alte Fotografie, und perspektivisch verkürzt. Es gab keinen Horizont mehr, nur noch das stete Rieseln der herabfallenden Flocken. Es waren auch keine Geräusche zu hören, abgesehen vom leichten Knirschen des Schnees unter meinen Sohlen. Alles wirkte gedämpft, geheimnisvoll und wunderschön. Ich hatte das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein.
    Es war noch immer nicht richtig hell, und auf der Heath war außer mir kein Mensch unterwegs. Ich konnte keine Fußabdrücke entdecken, und auch meine eigenen wurden schnell wieder zugeschneit. Die zugefrorenen Teiche waren unter einer weißen Schicht versteckt, die Fußwege nur an ihrer besonders glatten Schneedecke zu erkennen.

    Ich ging den Hügel hinauf und blieb dort eine Weile stehen.
    Was mir in dem Moment durch den Kopf ging? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wickelte ich mich bloß noch fester in meinen Mantel, schlug den Kragen hoch und sah zu, wie um mich herum der Schnee fiel. Schon bald würden hier viele Menschen sein – Spaziergänger, aber vor allem Kinder. Sie würden sich Schneeballschlachten liefern, Schneemänner bauen und vor Vergnügen kreischend mit dem Schlitten den Hügel hinuntersausen. Vorerst aber war ich noch ganz allein. Ich streckte die Zunge heraus und ließ eine Flocke darauf zergehen.
    Ich legte den Kopf zurück, bis ich

Weitere Kostenlose Bücher