Der falsche Freund
vor lauter Schnee nichts mehr sehen konnte.
Als ich den Hügel wieder hinunterwanderte, entdeckte ich weiter unten die ersten Leute. Aus der Ferne wirkten sie wie verwischte Striche auf einer weißen Leinwand. Und dann sah ich eine Gestalt langsam den Weg entlanggehen, der meinen kreuzte. Im Näherkommen erkannte ich, dass es sich um eine Frau handelte. Sie hatte einen dicken Mantel an, einen großen Hut tief in die Stirn gezogen, einen Schal um die untere Hälfte ihres Gesichts geschlungen. Trotzdem erschien mir etwas an ihr vertraut. Plötzlich fühlte ich ein schmerzhaftes Ziehen in der Herzgegend und blieb abrupt stehen. Vielleicht spürte sie meinen Blick, denn sie blieb ebenfalls stehen, nahm ihren Hut ab und legte eine Hand über die Augen, um besser sehen zu können. Schneeflocken landeten auf ihrem dunklen Haar. Ein paar Sekunden lang stand sie völlig reglos da, genau wie ich.
Am liebsten hätte ich ihren Namen gerufen: »Laura! Laura!«
und wäre zu ihr hingelaufen, um ihr Gesicht richtig sehen zu können. Sie schien es ebenfalls zu mir hinzuziehen, sie machte einen unsicheren halben Schritt nach vorn, den Hut noch immer in ihrer behandschuhten Rechten, hielt dann aber zögernd inne.
Ich hatte mich meinerseits noch nicht von der Stelle bewegt.
Dann setzte Laura ihren Hut wieder auf und begann von neuem den Weg entlangzugehen, nun aber in die andere Richtung, weg von mir. Nach einer Weile verschwamm ihre Gestalt in der Ferne. Ich sah ihr nach, bis sie sich im Weiß auflöste, wie ein einsamer Geist.
Irgendwie vergingen die Tage und Wochen. Was man auch tut, die Zeit vergeht. Dann passierte etwas.
Ich träumte, dass ich fiel, dass ich durch die Luft stürzte, und dann schreckte ich mit wild klopfendem Herzen hoch. Das Telefon klingelte. Während ich schlaftrunken nach dem Hörer tastete, bekam ich so halb mit, dass es draußen dunkel war.
Ich murmelte ein verschlafenes Hallo. Jemand begann in mein Ohr zu singen. Einen Moment lang glaubte ich, dass das alles noch Teil meines Traums war, ein Traum im Traum, aber dann ergaben die Worte langsam einen Sinn. »Happy birthday to you, happy birthday to you …«
Ich setzte mich auf und umklammerte den Hörer. Hinter der gnadenlos fröhlichen Melodie waren andere Geräusche zu hören: Stimmengewirr, Musik, lautes Gelächter.
»Happy birthday, liebste Miranda …«
»Nicht«, murmelte ich.
»Happy birthday to you!«
Ich verdrehte den Kopf, um einen Blick auf meinen Wecker zu werfen. Aus 12:01 wurde gerade 12:02.
»Ich wollte der Erste sein, der dir gratuliert. Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass ich es vergessen würde, oder? Das könnte ich nie vergessen.«
»Ich möchte nicht …«
»Der achte März. Hast du gewusst, dass das der internationale Tag der Frau ist?«
»Ich lege jetzt auf, Brendan.«
»Du bist immer in meinen Gedanken. Es vergeht keine Stunde, ohne dass ich an dich denke. Und ich bin auch immer in deinen Gedanken, stimmt’s?«
»Du bist betrunken.«
»Bloß guter Laune. Und allein.«
»Aber Laura …?«
»Ich bin allein, und ich denke an dich. Nur an dich.«
»Lass den Scheiß«, sagte ich und legte auf. Leider nicht schnell genug, denn ich hörte ihn gerade noch sagen: »Schlaf gut, Miranda. Süße Träume.«
27. KAPITEL
Es war unglaublich und unverzeihlich, aber ich kam tatsächlich zu spät in die Kirche. Ich hatte mir Gedanken gemacht, was ich anziehen sollte und ob das überhaupt eine Rolle spielte, und plötzlich war mir bewusst geworden, dass ich schon seit fünfundvierzig Minuten auf der Kante meines Betts saß und die Wand anstarrte, wobei ich selbst nicht so recht wusste, worüber ich eigentlich nachgedacht hatte. Die Kirche befand sich in New Maiden, wo Lauras Eltern lebten, und war viel weiter entfernt, als ich angenommen hatte, sodass ich mehrmals umsteigen musste. Am Ende geriet ich derart in Panik, dass ich kopflos aus dem Bahnhof stürmte, prompt eine falsche Abzweigung nahm und mich zu meiner Überraschung am Rand eines Golfplatzes wiederfand, wo Männer in farbenfrohen Pullovern den schönen Frühlingsmorgen genossen.
Die Kirche hatte zwei Türen, die beide geschlossen waren.
Drinnen hörte ich die Leute ein Kirchenlied singen, das ich von meinen früheren Schulgottesdiensten kannte. Ich wusste nicht, durch welche Tür ich gehen sollte. Schließlich entschied ich mich für den kleineren Seiteneingang. Ich hatte Angst, das Gebäude an einer exponierten Stelle zu betreten, wo alle mich anstarren würden.
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