Der falsche Mann
habe ich eine religiöse Verpflichtung.«
» Okay. Welcher Religion gehören Sie an?«
» Islam«, sagte er.
» Oh.« Das ließ mich stutzen. » Das ist … interessant.«
» Warum ist das ›interessant‹? Weil ich über einen Mann befinden soll, der an einer militärischen Operation gegen ein vorwiegend muslimisches Land beteiligt war?«
Irgendwas in der Art, ja. Ich tue mich schwer mit politischer Korrektheit. Die religiösen Überzeugungen von anderen Menschen sind mir zwar völlig gleichgültig – ich bin mir nicht mal sicher über meine eigenen religiösen Überzeugungen –, aber ich tue mich schwer mit übersteigerter Einfühlung.
Dr. Baraniq lachte über mein Unbehagen. » Entspannen Sie sich, Mr. Kolarich. Wir Muslime in Amerika haben mittlerweile ein dickes Fell.«
Das brauchten sie auch. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ein paar Kilometer westlich unseres Geschäftsbezirks diese gigantische Moschee gebaut wurde. Es war die größte Moschee im Mittleren Westen. Sie beendeten die Bauarbeiten im Sommer 2001, nur ein paar Wochen vor dem 11. September. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, trug die Moschee auch noch den Namen Masjid al-Qadir, was unvorteilhafte Assoziationen mit dem Namen der Terrorgruppe hervorrief, die uns attackiert hatte. Damals war ich noch Staatsanwalt und Single und kam jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an der Moschee vorbei. Es gab Proteste, Todesdrohungen und ständige Demonstrationen vor dem Gebäude. Endlich willigten die Verantwortlichen ein, das große Namensschild an der Moschee abzunehmen, allerdings ohne den Namen zu ändern.
Kaum jedoch waren ein paar Monate vergangen, da stand die Moschee in dem guten Ruf – zumindest bei denen, die ein derartiges Lob über die Lippen bekamen –, für Ruhe und Ordnung gesorgt zu haben in einem Viertel, das vorher von Gangs, Drogenhandel und Schießereien beherrscht wurde. Sie verteilten dort einmal im Monat kostenlos Lebensmittel und Kleidung und hatten sich erstaunlich gut assimiliert.
All das stimmte mich nachdenklich. Dr. Baraniqs Religion konnte unter Umständen sogar hilfreich sein für den Prozess. Gelang es mir, während seiner Aussage irgendwie seinen Glauben zu erwähnen, würde das seine Vertrauenswürdigkeit noch unterstreichen. Denn das Letzte, was man einem muslimischen Psychiater unterstellen würde, wäre Voreingenommenheit für einen amerikanischen Soldaten.
Er deutete mit dem Finger auf mich. » Wir müssen Tom zum Reden kriegen, Mr. Kolarich. Und mit mir will er sich nicht unterhalten. Für ihn bin ich bloß ein vom Gericht bestellter Arzt.« Er fixierte mich.
» Denken Sie vielleicht, er redet mit mir?«, fragte ich.
» Ich hoffe es in seinem eigenen Interesse.« Dr. Baraniq nahm seinen Mantel von der Rückenlehne seines Stuhls. » Denn andernfalls haben wir wohl kaum eine Chance, den Fall zu gewinnen.«
9
» Der Schlüssel zu diesem Prozess ist Sympathie«, verkündete ich im Konferenzraum. » Tom Stoller hat alles für sein Land gegeben. Das hat ihn zerstört. Er trug eine posttraumatische Belastungsstörung davon, die wiederum seine Schizophrenie auslöste. Von da an ging’s bergab. Bis sich eine Tragödie ereignete. Aber Tom Stoller ist mindestens ebenso sehr Opfer wie Kathy Rubinkowski.«
» Na ja, vielleicht nicht ganz so sehr«, warf mein Privatermittler Joel Lightner ein. Er hatte seine Krawatte gelockert und die Füße auf den Tisch gelegt. Joel leistet mir gelegentlich auf einen Drink Gesellschaft, genauer gesagt rund dreimal die Woche. Er hat zwei Ehen vermasselt, ist ein notorischer Schürzenjäger und ein begeisterter Trinker.
» Argumentieren wir denn nicht mehr mit Unzurechnungsfähigkeit?«, fragte unser Frischling Bradley John. Anders als Joel war Jung-Bradley noch interessiert daran, etwas Neues dazuzulernen.
» Unzurechnungsfähigkeit ist unsere rechtstheoretische Grundlage«, sagte ich. » Und die werden wir untermauern mit allem, was uns zur Verfügung steht. Aber sie ist nur Mittel zum Zweck. Wir brauchen sie, um der Jury Toms Hintergrund zu schildern. Um ihre Sympathien zu wecken. Sie sollen Skrupel empfinden, einen unserer tapferen Soldaten lebenslänglich hinter Gitter zu schicken. Natürlich müssen wir trotzdem sein fehlendes Unrechtsbewusstsein durch klare überzeugende Beweise belegen; ich bin mir jedoch nicht sicher, ob uns das wirklich gelingt. Tom konnte durchaus Recht von Unrecht unterscheiden. Er hat sich beim Opfer entschuldigt. Und anschließend hat er ihr
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