Der falsche Mann
bewahrte mein Pokerface, dann lachte ich. » Wendy, so was würde ich nie tun. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Dokument in deinen Augen kein entlastendes Beweismaterial darstellte. Du hattest schlichtweg keine Ahnung, was für eine geradezu explosive Bedeutung es hat.«
Sie verdrehte die Augen. » Explosive Bedeutung«, äffte sie mich nach.
» Eine Sprengbombe, ein einschneidender Wendepunkt.«
» Klar doch.« Sie legte die Fingerspitzen aneinander. » Eben bist du noch davon ausgegangen, Tom Stoller hätte Kathy Rubinkowski erschossen, aber dann erfährst du – oh, Horror –, dass sie als Anwaltsgehilfin mit schriftlichen Antrag serwi derungen beschäftigt war! Das ändert natürlich alles!«
Erneut lächelte ich. Ich lächelte nicht häufig, außer in ihrer Gegenwart. Ich vermisste meine Staatsanwaltskollegen. Und ich vermisste das Büro. » Du hast sicher recht«, sagte ich. » Und je mehr ich darüber nachdenke – vermutlich besitzt dieses Dokument tatsächlich nicht die geringste Relevanz. Ich würde mir an deiner Stelle nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen. Wirklich.«
Wieder pokerte ich. Sie kannte das Spiel. Und offensichtlich fand sie es amüsant. Früher hatte ich sie oft zum Lachen gebracht. Einmal hatte ich es im Gerichtssaal so weit getrieben, dass sie noch lauthals lachte, als ihr Fall aufgerufen wurde, und sie war nur um ein Haar einer Vorladung wegen Missachtung des Gerichts entgangen.
» Du hast also eine Kopie des Dokuments?«, fragte ich.
Sie nickte. » Ray hat es mir gefaxt, gleich nachdem er es erhalten hatte.«
» Ausgezeichnet. Und ich kann davon ausgehen, dass du mir keine weiteren Dokumente vorenthältst?«
» Zumindest fallen mir im Moment keine ein.« Wendy beobachtete mich eine Weile, dann wich das Grinsen langsam aus ihrem Gesicht. » Du wirst doch deswegen keinen Verfahrensaufschub beantragen – wegen diesem bedeutungslosen Schriftstück?«
» Nein«, sagte ich.
Sie entspannte sich. Dann blickte sie erneut zu mir auf. » Und – wie geht’s dir so? Hast du wieder Boden unter den Füßen?«
» Manchmal kneife ich mich selbst«, sagte ich.
» So gut geht’s dir?«
» Nein, ich kneife mich einfach nur gerne.« Wir waren am Ende mit unserem Gespräch. Ich hievte mich aus meinem Sessel.
» Der Verlierer gibt ein Dinner aus«, sagte ich.
» Einverstanden. Aber irgendwo mit weißen Tischdecken.«
Sie hätte nicht so schnell zustimmen müssen.
32
Als ich in die Anwaltskanzlei zurückkehrte, stürzte sich Bradley John förmlich auf mich. Er war noch jung und ehrgeizig, was hoffentlich auf mich abfärben würde, zumindest der Teil mit dem Ehrgeiz. Bradley hatte drei Jahre als Bezirksstaatsanwalt irgendwo im Landkreis Dienst getan und dabei wichtige Erfahrungen gesammelt, hatte aber das ewige Pendeln satt und wollte an seinem Wohnort arbeiten. Er war gerade dreißig geworden, machte jedoch immer noch jede Nacht einen Streifzug durch die Kneipen; in seinen Augen hatte er seine Karriere noch vor sich und schien sich in unserem Team recht wohl zu fühlen.
Er wollte mir etwas zeigen und winkte mich in den Konferenzraum, unsere Einsatzzentrale. Dort griff ich mir als Erstes das Dokument, das Ray Rubinkowski mir gegeben hatte, und studierte wieder einmal die Rückseite mit den rätselhaften handschriftlichen Notizen:
AN
NM
??
» Hast du rausgefunden, wer AN und NM sind?«, fragte ich.
» Ich arbeite dran«, sagte er. » Aber ich weiß jetzt, was die beiden Symbole unter den Initialen bedeuten. Es sind Fragezeichen. Und das heißt, Kathy hatte Fragen.«
» Erstklassige Arbeit, Bradley. Und nur nebenbei bemerkt: Es wäre äußerst hilfreich, wenn es sich bei AN und NM um die Initialen der beiden Mörder von Kathy Rubinkowski handelt.«
» Verstanden.«
» Und besorg dir am besten auch gleich ihre Geständnisse. Das wäre großartig.«
» Kein Problem, Boss. Steht gleich als Nächstes auf meiner To-do-Liste.«
Bradley hatte sich rasch an meinen Sarkasmus gewöhnt. Das war eine seiner einnehmenden Fähigkeiten. Das und sein Fleiß und sein Talent.
» LabelTek Industries gegen Global Harvest International«, sagte er. Es war der Name des Falls auf dem Dokument, das Kathy Rubinkowski ihren Eltern geschickt hatte. Was uns höchstwahrscheinlich verriet, dass Kathy die Antworten auf eine schriftliche Anfrage zu diesem Fall vorbereitet hatte.
Ich setzte mich und wartete auf eine Erklärung.
» Global Harvest verkauft Düngemittel und ähnliche Produkte an
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