Der falsche Mann
Wahrheit. » Worüber haben wir gesprochen?«
» Er hat Ihnen erzählt, dass er die Identität von jemandem liefern kann. Er wollte Schutz.«
» Wessen Identität?«
Eine weitere Pause. » Nicht am Telefon«, sagte sie.
Aus ihrer Sicht war das verständlich. Und eigentlich wollte ich sie nicht zu sehr unter Druck setzen. Doch ich hatte keine Ahnung, wo sie sich aufhielt, und sie konnte jederzeit auflegen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es war ein Balanceakt. Sie brauchte mich, aber ich brauchte sie noch mehr.
» Gin Rummy«, sagte sie. » Und Lorenzo hat Ihnen erzählt, dass er Beweise hat.«
Ich schloss die Augen. Dieselben Worte hatte Lorenzo Fowler mir gegenüber verwendet – er hatte Beweise.
» Sind Sie jetzt zufrieden?«, fragte sie mich.
» Sagen Sie mir, wo Sie sind«, forderte ich sie auf. » Ich fahre gleich los.«
54
Wegen des Brückentags nach Thanksgiving herrschte auf meiner Seite des Geschäftsviertels nur wenig Verkehr, außerdem war es erst vier Uhr nachmittags. Die Sonne war kurz vorm Untergehen, aber zwischen den Hochhäusern der City war es praktisch schon dunkel. Ich umfuhr die North und die East Side, wo die Läden jetzt vermutlich von Weihnachtseinkäufern überquollen. Ich dachte nicht gerne an Weihnachte n. Es e rinnerte mich zu sehr an meine Frau und meine Tochter.
Ich vermied den Expressway an der Westgrenze des Geschäftsviertels und nahm Seitenstraßen in südlicher Richtung. Sasha Maldonov hatte mir nicht verraten, wo sie sich aufhielt, aber sie hatte mir einen Treffpunkt genannt. Sie wollte mich an einem öffentlichen Ort sehen, der dennoch nicht zu überlaufen war.
Die Straße war Teil eines Geschäftsviertels, doch die Läden hier würden keine frühe Weihnachtseinkäufer anlocken. Hier im Südwesten der Stadt existierten keine Filialen von Nordstrom, Neiman Marcus oder Macy’s. An dieser Straße lage n G ebrauchtwarenläden, Kreditinstitute und Billigdiscounter.
Ich fuhr meinen SUV auf den Parkplatz eines mit Brettern vernagelten Restaurants am südöstlichen Ende der Straße. Es gab keine Beleuchtung, und jetzt nach Sonnenuntergang war es ziemlich finster. Östlich des Lokals befand sich ein Laden, der mit Übergrößen und Second-Hand-Mode warb; südlich davon lag ein weiteres verlassenes Gebäude, offensichtlich ein ehemaliges Schuhgeschäft. Zwischen den beiden verwaiste n L äden öffnete sich eine schmale Gasse in Ost-West-Richtung.
Neben der Einfahrt zur Gasse stand eine Frau in einem langen schwarzen Mantel mit einer Baseballkappe. Sasha Maldonov. Groß, attraktiv, langes schwarzes Haar, das unter der Kappe hervorquoll. Sie hatte erklärt, sie würde einen dunklen Mantel und eine rote Baseballkappe tragen. Die Farbe der Kappe konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen, aber es handelte sich ohne Zweifel um die richtige Person.
Ich nickte ihr zu. Sie nickte zurück, drehte sich um und verschwand in der Gasse.
Vorsichtig näherte ich mich der kleinen Straße und warf einen längeren prüfenden Blick hinein, bevor ich sie betrat. Es war eine Sackgasse, die nach etwa dreißig Metern endete. Auf der rechten Seite und an der rückwärtigen Mauer standen Mülltonnen. Von einer Straßenlaterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel spärliches Licht herein, das war alles. Sasha stand neben einer Tür, die zu dem verlassenen Restaurant gehörte. Mit einem kurzen Winken forderte sie mich auf, mich weiter hineinzuwagen.
Ich blieb wachsam. In meiner Tasche trug ich ein Aufzeichnungsgerät. Ich hatte keine Waffe bei mir. Das Tragen von Waffen war ich nicht gewohnt und besaß auch keine entsprechende Erlaubnis. Vermutlich hätte ich auf dem Weg hierher noch zu Hause vorbeifahren und meine Pistole holen sollen, doch jetzt war es zu spät.
Ich ging an den Mülltonnen vorbei und näherte mich ihr bis auf etwa fünfzehn Schritte. Sie wirkte ängstlich, und ich wollte nichts überstürzen.
» Miester Kohlariiech«, sagte sie mit ihrem starken Akzent, während ich herankam. » Sind Sie sicher, dass Ihnen niemand gefolgt ist?«
» Ich wurde nicht verfolgt«, sagte ich, obwohl ich mir da keineswegs sicher war. Beruhigend hob ich die Hände. » Sagen Sie mir, wie Sie vorgehen wollen.« Dann machte ich einen weiteren Schritt.
In diesem Moment flog neben ihr die Tür auf. Ein Mann in Lederjacke und Rollkragenpullover trat heraus, und Sasha – oder wie auch immer ihr Name war – schlüpfte hinein und verschwand. Auf einmal war ich mit diesem Typen allein in
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