Der Favorit der Zarin
was eine fast unglaubliche Leistung war. Er hatte so viel erfahren, so viel für sich entdeckt, so viel nachgedacht und die Gesetze der Natur entschlüsselt. Wenn du diese natürlichen Gegebenheiten verstehst, dann brauchst du eigentlich vor nichts Angst zu haben. Zunächst werden die durch deine Adern strömenden Lebensflüssigkeiten nach den Gesetzen der Physik unter der Einwirkung der niedrigen Temperatur ihr Fließen einstellen, was zur Trennung von Seelensubstanz und Körper führt. Dann zeitigen die Gesetze der Chemie ihre Wirkung, und der Organismus, der früher Mitja hieß, beginnt in seine Bestandteile zu zerfallen. Aber wahrscheinlich werden sich noch davor die Gesetze der Biologie bemerkbar machen und zwar in Gestalt von Zähnen und Schnäbeln der Waldtierchen.
Über die Schneekruste legte sich ein leichter Puder, der allmählich die Filzstiefel und den Pelzmantel zuwehte. Mitja wischte ihn erst weg, später ließ er es. Wozu?
Seine Beine fingen an kalt zu werden, was wenig später wieder aufhörte.
Seine Gedanken verloren ihre Klarheit, aber davon wurde ihm noch wohliger, wie vor dem Eintauchen in den Schlaf. Es war leise, ganz leise, nur die Zweige knarrten und das träge Schneetreiben rauschte. Mitja hob die Augen.
In den Zwischenräumen zwischen den grauen Baumkronen zeichnete sich der schwarze Himmel ab. Was war dort, jenseits von ihm? Es schien ihm plötzlich, wenn er genauer hinsähe, müsste er es bestimmt sehen können. Er musste sich nur beeilen, damit er es schaffte, bevor die Seele den Körper verließ und fortflog.
Er blinzelte, da rückte der Himmel auf ihn zu. Mitja wunderte sich zuerst, begriff dann aber, dass nichts Verwunderliches daran war. Es stellte sich heraus, dass er gar nicht mehr auf der Erde lag, sondern in der Luft schwebte, zwischen den spitzen Fichtenwipfeln, und er fühlte sich unheimlich wohl. Er schaute nach unten, dort auf dem Schnee lag wohl wirklich jemand, aber ihn sich anzusehen, war uninteressant, der Himmel war sehr viel verlockender. Mitja drehte ihm sein Gesicht zu, da näherte er sich rasch. Merkwürdig, er war immer noch genauso schwarz, wenn nicht sogar noch etwas schwärzer, aber überhaupt nicht dunkel. Er begriff: Im Himmel ist ein so grelles Licht versteckt, dass es wehtut, es zu sehen, die Augen überziehen sich mit einem Film. Erstaunlich, dass er das früher nicht bemerkt hatte. Je höher Mitja flog, desto mehr gewöhnten sich die Augen an dieses dichte Strahlen, und er flog schon durch die Schwärze und durch das bernsteinfarbene Licht, und vor ihm zeichnete sich etwas ab: so etwas wie ein Kreis oder eine Öffnung. Mitja bemühte sich, noch schneller zu fliegen; er konnte es nicht erwarten, möglichst schnell zu sehen, was das war.
Und da hörte er eine Stimme, die war heiser, alt, uralt. Was die Stimme sagte, war unverständlich; aber es war sicher, dass sie ihn rief. Sie nannte ihn allerdings nicht Mitja, sondern rief ihn bei einem ihm unbekannten Namen.
»Lütter!«, heulte die Stimme. »He, Lütter!«
Offenbar würde er im Himmel diesen Namen haben. Erst war er Dmitri, dann Mithridates und nun Lütter?
Er öffnete die Augen weiter und sah: Was ihm aus der Ferne als Kreis oder Öffnung erschienen war, war in Wirklichkeit ein Gesicht.
Als er dieses Gesicht genauer betrachtete, erzitterte er, so schrecklich war es: runzlig, mit struppigen grauen Brauen, Hakennase und einer mitten auf der Nase prangenden Warze.
Und die wunderbare Welt verblasste auf einmal, es wurde wieder dunkel. Mitja klapperte mit den Zähnen vor Kälte und sah, dass er gar nicht im Himmel war, sondern im Schnee lag, unter den schwarzen Fichten; eine unheimliche Alte, die ganz in dreckige Tücher gehüllt war, beugte sich über ihn.
»Lütter, he, Lütter«, krächzte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Was ist mit dir? Ist dir kalt? Na, komm. Na, komm.« Und sie reckte ihre knochigen Finger nach ihm.
Baba Jaga, die Hexe, wurde Mitja klar, und er wunderte sich nicht im Geringsten darüber. Er erschrak nur heftig, noch mehr als vorhin über den Wolf. Knochiges Bein, grauer Schnurrbart und riesige Eisenzähne. Schon der weise d’Alembert hatte geschrieben (oder war es d’Holbach? – sein Kopf war durchgefroren und verworren): Nicht alles an den Volkssagen ist Aberglaube und Erfindung. Die Märchendrachen zum Beispiel sind ein Relikt der alten Reptilien, die früher einmal den Planeten bevölkerten; heute stößt man bei Ausgrabungen an verschiedenen Orten auf die Skelette
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