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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Ochotny Rjad ‹ ?«

ZEHNTES KAPITEL
    LE MÉDECIN MALGRÉ LUI oder
ARZT WIDER WILLEN
    (Molière, 1666)
    Und wo ist das Jagdhäuschen?, fragte sich Mitja und versuchte sich wieder auf die Suche zu konzentrieren, nachdem er seinen traurigen Gedanken nachgehangen hatte. Er rannte schon lange nicht mehr, sondern ging nur noch, denn er war aus der Puste gekommen, und die gerodete Stelle war weit und breit nicht zu sehen. Der Pfad, der schon zu Beginn nicht gerade ausgetreten gewesen war, hatte sich nun ganz stark verengt. Bei genauer Betrachtung der Spuren sah man, dass sie nicht von Menschen stammten; es gab nur rundliche Spuren, und zwar unangenehm große, mit Krallen.
    Es war schon fast ganz dunkel, Büsche und Bäume waren dicht aneinander gerückt. Er hatte sich verirrt, begriff Mithridates. Und er begriff auch, dass die Bücher, die er gelesen hatte, und die weisen Maximen hier nicht halfen. Das Blödeste war, dass ihm auf einmal ein Liedchen einfiel, mit dem ihn die dumme Amme in den ersten stummen Jahren seines Leben gequält hatte: »Kommt da nun der Wolf geschlichen, nimmt dich zack! bei dem Schlafittchen.« So sah er denn auch wirklich, wie hinter einem Strauch in nächster Nähe zwei phosphoreszierende Flämmchen aufleuchteten und der Canis lupus, der in der russischen Ebene ja so verbreitet ist, als lautloser Schatten auf den Pfad gesprungen kam, auf seinen federnden Tatzen auf- und niederhüpfte und ihm die scharfen Zähne in den Leib schlug.
    Da wackelte der Strauch auf einmal wirklich. Mitja erschrak, wich aus, verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Das war gar kein Wolf, sondern ein großer Vogel. Der war offensichtlich selbst erschrocken – er flatterte mit seinen grauen Flügeln, flog auf und stieß einen Schrei aus.
    Der Fuß! Das tat vielleicht weh!
    Er ruhte sich ein bisschen aus und aß etwas Schnee; es schien ihm besser zu gehen. Aber als er aufstehen wollte, heulte er auf. Er konnte einfach nicht auftreten.
    Der Fuß war gebrochen, so viel war klar.
    Er kroch irgendwie bis zum nächsten Baum und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm.
    Was sollte er denn jetzt machen?
    Jetzt hätte er wirklich Angst bekommen müssen, nicht kindliche vor dem bösen Wolf, sondern echte, erwachsene, denn vor Mitjas Verstand trat das Bild des nahen Endes seines Lebens in aller Unabweisbarkeit und Unausweichlichkeit: gehen konnte er nicht, die Nacht brach an, und wenn ihn nicht der Wolf oder der Luchs fräßen, dann wäre er in etwa zwei Stunden sicher erfroren.
    Aber vielleicht spürte Mitja gerade darum, weil er den tödlichen Ausgang so unumgänglich vor sich sah, keine Angst. Mehr um sein Gewissen zu entlasten als zur Probe versuchte er noch einmal aufzustehen und überzeugte sich davon, dass er nicht gehen und noch nicht einmal stehen konnte. Er überlegte, ob er zurückkriechen sollte. Nein. Er war recht lange gerannt und dann gegangen, so weit kannst du gar nicht kriechen. Und wozu auch? Selbst wenn du es bis zur Straße schaffst, wenn es dunkel ist, kommt da sowieso niemand vorbei. Dann erfrierst du am Straßenrand. Der einzige Trost wäre, dass ihn nicht die Füchse und die Raben auffräßen, sondern ihn Leute finden und begraben würden. War Mitja sein totes Fleisch etwa zu schade für die Füchse und Raben? Sollten sie es doch fressen. Statt auf dem Bauch zu kriechen und sinnlos die letzten Kräfte zu vergeuden, sollte er sich lieber wie die Weisen Seneca und Sokrates mit Würde auf das Ende seiner irdischen Existenz vorbereiten. Der Kältetod ist, wie beschrieben wird, keineswegs qualvoll. Du wirst schläfrig, döst ein und wachst nicht mehr auf.
    Nun waren die weisen Bücher doch von Nutzen. Zwar kannst du mit ihrer Hilfe nicht dein Leben retten, aber das Sterben fällt dir leichter.
    Und Mitja drehte sich auf den Rücken und machte sich ans Sterben: sog die Waldluft ein und zog Bilanz. Er lag weich und bequem, und ihm war noch nicht kalt. Seine Gedanken strömten so dahin, was durchaus etwas Angenehmes hatte.
    Nun ja, Mithridates-Dmitri Karpow hatte nicht lange auf dem Erdball gelebt, sieben Jahre minus einen Monat. Aber immerhin länger als die Mehrheit der zur Welt kommenden Menschen, von denen jeder Dritte in der ersten Woche und jeder Zweite in den ersten zwei Jahren nach der Geburt stirbt. Im Vergleich zu den meisten Menschen war Mitja also ein Glückspilz. Hinzu kam: Er hatte seinen Weg nicht in der Finsternis der erwachenden Vernunft zurückgelegt, sondern im hellen Licht des vollen Verstandes,

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