Der Fehler des Colonels
die Mullahs tot sind.
Rede nicht so. Tu das nicht.
Ich habe es Minabi schon versprochen.
Minabi liegt nichts an dir –
Ich tue es nicht für sie.
Daria und Mark saßen in fünfzehn Metern Höhe im Schneidersitz unter einer braunen Leinenplane auf einer wackligen, halb verrotteten Holzplattform. Eine fünfzig Zentimeter hohe Brüstung, die früher das Dach des Glockenturms getragen hatte, umgab die Plattform. Unmittelbar hinter der Kirche erstreckte sich ein Apfelhain und rund fünfhundert Meter weiter stand auf einem brachliegenden, mit Unkraut überwucherten Acker ein Bauernhaus.
»Wir wechseln uns ab«, sagte Mark. »Ich überwache erst einmal das Haus, du kannst die Felder und Wälder in der Umgebung im Auge behalten.«
Daria erinnerte sich an die Geburtstagsgeschenke ihres Onkels – eine kleine iranische Schmuckschatulle mit Elfenbeinintarsien; ein Geschenkgutschein für Macy’s; ein Miniaturaquarell, gemalt auf Kamelknochen, das wunderschöne gelbe Schwertlilien zeigte. Ihr Onkel hatte nie gewollt, dass sie sich mit den Volksmudschahedin einließ.Das Einzige, wozu er sie angespornt hatte, war, dass sie ihr Studium an der Duke University erfolgreich abschloss.
»Okay?«, sagte Mark.
»Ja, geht klar«, sagte sie, aber tatsächlich wusste sie nicht, ob sie das hier noch machen konnte. Der Zorn hatte sie so lange aufrecht gehalten. Aber ihren Onkel zu verlieren ging über bloßen Zorn hinaus. Die Mullahs hatten ihr nun alles auf dieser Welt genommen, was sie liebte. Sie hatten gewonnen. Sie empfand einfach gar nichts mehr.
»Wechseln wir uns jede halbe Stunde ab?«
»In Ordnung.«
Um halb acht kamen zwei Männer mit Sturmgewehren aus dem Hinterausgang des Hauses. Die Steinmauer um den Hof verdeckte ihre Beine, aber durch das Teleobjektiv ihrer Kamera konnte Daria sie von der Taille aufwärts sehen. Gut möglich, dass sie Iraner waren, dachte Daria – aber bei dem Mix der Kulturen in diesem Land konnten sie ebenso gut Franzosen sein.
»Kennst du einen von denen?«, fragte Mark.
Daria suchte nach Abzeichen auf ihren olivgrünen Hemden, nach Hinweisen auf ihre Identität.
»Nein.«
Sie sah Mark zwinkern, als er durch sein Fernglas schaute. Es erinnerte sie daran, dass er in Baku manchmal eine Brille getragen hatte.
»Ihre Kalaschnikows wurden im Iran hergestellt«, bemerkte Mark.
»Woran siehst du das?«
»Schwarze Plastikgriffe.«
Ihr Onkel hatte recht gehabt, dachte Daria. Das war es nicht wert gewesen. Sie hätte etwas Vernünftiges aus ihrem Leben machen sollen. Stattdessen hatten sie beide ihr Leben einer zum Scheitern verurteilten Sache gewidmet.
Ein paar Minuten später trat eine Frau mit einem roten Schal um den Kopf ins Freie. Sie war kleiner als die Männer, die bereits draußen waren, und sie trug keine Waffe.
»Achtung!«, sagte Mark.
Aber Daria hatte sie schon gesehen. Nervös stellte sie das Teleobjektiv an ihrer Kamera ein und drückte sich an die Wand. Die Frau mitdem roten Schal begann auf dem kleinen, ummauerten Hof des Anwesens hin und her zu gehen. Jedes Mal, wenn sie am hinteren Ende angelangt war, kam ihr Körper ganz in Sicht.
Zum ersten Mal, seit sie Deckers Geschichte über die Gräber gehört hatte, regte sich in Daria so etwas wie Hoffnung.
»Das ist Minabi!«, flüsterte sie.
»Bist du sicher?«
»Sie geht wie eine Ballerina, oft mit den Händen vor dem Bauch verschränkt. So wie sie jetzt geht. Außerdem kann ich ihr Gesicht ganz gut erkennen.«
»Bist du ihr schon persönlich begegnet?«
»Ein paar Mal. Wenn Minabi am Leben ist, dann gibt es eine Chance …«
»Eine Chance.«
Es bestand auch eine Chance, dass ihr Onkel noch lebte, dachte Daria. Wenn diese Leute Minabi verschont hatten, dann vielleicht auch ihren Onkel und andere führende Köpfe der MEK. Sie beäugte die Soldaten, die Minabi bewachten, taxierte deren Waffen, spürte, wie der altbekannte Zorn wieder aufflackerte.
Als Minabi schließlich ins Haus zurückkehrte, fuchtelten die Wachleute mit ihren Gewehren – offenbar hatte man es ihr befohlen.
»Also gehen wir nachts rein«, sagte Mark. »Minabi wird dann in einem Zimmer eingesperrt sein, wo sie schläft oder auch nicht, und plötzlich tauchst du auf und erklärst ihr, sie soll mit dir verduften, während Deck und ich die Wachleute ausschalten. Vertraut sie dir? Wird sie dich erkennen? Schreien?«
»Bin mir nicht sicher. Hängt davon ab, wie ich es anpacke.«
Wenn ihr Onkel da drin war, würde sie ihn holen.
»Denk drüber
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