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Der Feind im Spiegel

Der Feind im Spiegel

Titel: Der Feind im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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womöglich würde Mike einen Psychologen brauchen. Er war dem Tod noch nie so nah gewesen, das steckte ein Mensch nicht so ohne weiteres weg. Das konnte durchaus positiv sein. Man sah alles klarer. Farben wurden kräftiger und die Luft reiner. Aber es konnte auch eine ganz andere Wirkung haben. Der Schock würde mit Verspätung einsetzen und konnte die Menschen in eine tiefe Depression stürzen, aber Mike benahm sich wie immer. Er sagte bloß: »Du hast mir das Leben gerettet. Ich spendiere dir ein Essen bei Zelo’s.«
    Nun saßen sie an ihrem üblichen Tisch. Hanalei war ein stilles Dorf wenige Meilen von der Villa entfernt. Es lebte von Surfern und Hikern. An der verschlafenen Hauptstraße lagen eine Handvoll Geschäfte, die örtliche Schule und ein paar Restaurants. Die Häuser waren blau und grün. Die unvermeidlichen Kokospalmen beugten sich sanft im Wind. Vuk erinnerte sich noch an den Tag, als ihre großen Blätter den Erdboden gepeitscht hatten, so stürmisch war es gewesen. Am folgenden Morgen bedeckten sie die Erde wie ein grüner Teppich. Mike und Vuk waren Stammgäste bei Zelo’s. Der Ort paßte zum Lebensrhythmus der Insel. Bei ihrem ersten Besuch war Mike im Streß gewesen und hatte um ein bißchen Tempo gebeten. Die Kellnerin hatte sie nur angeguckt, ihr Kaugummi gekaut und gemeint: »Wenn ihr’s eilig habt, dann seid ihr hier falsch.« Es war das Mantra von Zelo’s und der Nordküste. Eile mit Weile. Wer die großen Inseln und die Hetzerei des Festlandes vermißte, wohnte hier einfach nicht.
    Zur Mittagszeit war das Restaurant wie immer gut gefüllt. Sie saßen auf der offenen Veranda und schauten zu dem Geschäft hinüber, das Surf- und Tauchausrüstungen und Kajaks verlieh. Der Tisch war aus Holz und hatte eine genoppte, schachbrettartige Oberfläche. Innen an der Eingangstür hingen die Nachbildung einer alten hawaiianischen Maske und ein Poster mit Hulamädchen. Zelo’s Kunden bestanden aus jungen Insulanern und Touristen, die übliche Mischung. Sie waren schwer zu unterscheiden. Alle trugen Shorts, T-Shirts und Sandalen. An der langen Bar tranken vier Männer mexikanisches Corona-Bier und sahen Baseball im Fernsehen. Über ihnen hing ein altes Plakat der eingegangenen Fluggesellschaft Pan Am. » You ought to be in Hawaii « , stand über einer Stewardeß in hellblauer Fünfziger-Jahre-Uniform. Die Naivität des Werbeplakats gefiel Vuk. An der Decke hing ein rotes Auslegerkanu zwischen zwei Ventilatoren, die sich langsam und monoton drehten. Es herrschte Rauchverbot, man roch nur das Essen und das Meer. An den Wänden hingen Bogen und Köcher und Schwarzweißfotos von irgendwelchen Baseballhelden. Überall standen Blumen, und aus der unsichtbaren Anlage ertönte nur selten mal ein Song, der nach 1980 produziert worden war. Vuk liebte den Ort. Er strahlte Ruhe und Frieden aus. Hier stand die Zeit still. Er würde gern für immer irgendwohin ziehen, wo die Zeit stillstand und Vergangenheit und Zukunft zu einer Gegenwart verschmolzen, die ewig Bestand hatte, und wo niemand überflüssiges Gepäck aus der Vergangenheit mit sich herumschleppte.
    Joe-Ann, die Bedienung in ihren engen Jeans und dem knappen Top, kam an ihren Tisch. Sie kannte sie natürlich und vermutete, daß sie Zivile waren, obwohl nur Mike eine Pistole unter seinem Hawaiihemd trug. »Hallo, Jungs. Worauf habt ihr heute Lust?« fragte sie und stellte zwei große Gläser Eiswasser auf ihren Tisch. Sie bestellten Hamburger und Eistee. Beim Essen sagten sie nichts und schauten auf die Straße hinaus und lauschten der Musik von Grateful Dead. Schräg gegenüber, links neben der Schule bemerkte Vuk einen mächtigen Eukalyptusbaum, der ihm nie aufgefallen war, weil das hinter der Schule aufragende Bergmassiv alle Blicke auf sich zog. Eukalyptusbäume waren wie vieles andere importiert worden, wie Phil ihm erzählt hatte. Importiert wären er und Emma auch. Aber sie könnten Wurzeln schlagen. Und die Zwillinge könnten fast noch richtige Einheimische werden, und wenn man sie später fragte, woher sie kämen, würden sie Kauai angeben. Da hätten sie gar keine Zweifel. Sie müßten sich nicht mit verbotenen Sprachen herumschlagen, sie sprächen nur die Sprache, die alle sprachen, und vielleicht noch eine, die sie auf der Schule oder an der Uni lernten. Das war das größte Geschenk, das er ihnen mitgeben konnte.
    Abrupt schob Mike seinen Teller von sich. Er hatte nur die Hälfte seines Burgers und ein paar Fritten gegessen. Seine Hände

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