Der Feind im Spiegel
Holzkirchlein sah ziemlich neu aus, der dazugehörige Friedhof war deutlich älter. Verwitterte Grabsteine neigten sich über struppiges grünes Gras. Die Gräber waren nicht geschmückt, hier schien schon lange niemand mehr begraben worden zu sein. Ein stattlicher Magnolienbaum warf in der späten Nachmittagssonne einen langen Schatten. Es war totenstill.
Vuk ging durch die Reihen. Er wollte Mike in Frieden beten lassen. Das war wohl ein Teil von Mikes Therapie, das war in Ordnung. Sein Blick streifte einen hohen Grabstein, glitt über die Inschrift und blieb hängen. Es war wie ein Schock. Ein plötzlicher Sprung zurück in die Vergangenheit, als er die fremden und doch so bekannten dänischen Worte las. Er ging in die Hocke, fuhr mit den Fingerspitzen über den Stein und las die Inschrift noch einmal. Als könnte er es nicht glauben, daß es hier dänische Worte geben konnte, Abertausende von Kilometern von diesem kleinen windzerzausten Land im Norden entfernt. Der Stein war rauh und trotzdem ein bißchen glatt vom Moos. Es war ein alter, ehemals weißer Stein, der inzwischen gelb und braun geworden war, aber die schwarzen Buchstaben waren unter dem Moos gut lesbar.
Saved to the memory
of Peder Møller
Born
in Copenhagen
Aug 20 1850.
Died in Kilauea
April 7 1890.
Gud v æ re os alle naadig og barmhjertig.
Peder Møller war nicht einmal vierzig Jahre alt geworden. Was hatte er hier gemacht? Wie war er hier gelandet? War er Walfänger? Oder Fischer? Oder hatte er auf einer Ananas- oder Zuckerrohrplantage gearbeitet? Wie war er hierhergekommen? Eine unendliche Reise war das damals. War er wie Vuk auf der Flucht gewesen und hatte das Glück möglichst weit weg von der Heimat gesucht? Oder war er von unbändiger Abenteuerlust getrieben? Die sieben dänischen Wörter drohten einen Gedankengang loszutreten und Erinnerungen heraufzubeschwören, die ihm gerade jetzt absolut nicht in den Kram paßten.
»1850. Da war mein Ururgroßvater Sklave auf einer Baumwollfarm bei Richmond. Was dieser Peder Møller hier wohl getrieben hat? Hier gab’s bestimmt auch Sklaven. Vielleicht war er Aufseher.« Mike hatte sich unbemerkt neben ihn gehockt.
»Kann sein. Aber wahrscheinlich eher Walfänger.«
Mike beugte sich über den Stein.
»Und was steht da am Ende? Was ist denn das für eine Sprache?«
»Das ist Dänisch. Gott sei uns allen gnädig und barmherzig « , übersetzte Vuk.
Mike ließ sich im Gras nieder.
»Amen. Das Beten hat mir geholfen. Ich hatte einfach das Bedürfnis, Gott zu danken. Betest du nie?«
»Nein.«
»Warum denn nicht?«
»Es nützt nichts.«
Und wie aus heiterem Himmel drängte sich ihm das Bild des betenden Imams in Sarajevo auf. Die serbische Seite hatte die Nase voll gehabt von diesem Imam: fünfmal am Tag dieser bescheuerte Singsang vom Balkon des halb zerschossenen Hochhauses. Sie hatten das Los sprechen lassen, Slobodan und er. Er hatte gewonnen. Sie hatten sich mit Branntwein betäubt, aber seine Hand war ruhig und das Imamgesicht im Zielfernrohr ganz deutlich. Vuk hatte sich nachts über die feindliche Linie geschlichen. Jetzt lag er in einem Gebäude gegenüber dem Hochhaus und wartete auf das Erscheinen des Imams zum Morgengebet. Jemand mußte die Wohnung kürzlich noch bewohnt haben, obwohl die Einrichtung völlig zertrümmert war. Der Fußboden war mit leeren Flaschen übersät, und die Matratze in der Ecke wies einen großen Fleck auf, als wenn sich dort jemand übergeben hätte. Vuk benutzte die Fensterbank als Stütze für sein Gewehr. Es war eine leichte Übung, der Abstand betrug keine zweihundert Meter. Nichts verstellte die Schußlinie. Die bärtige Visage war in einer Wolke aus Blut explodiert, als das schwere Projektil präzise auf der Nasenwurzel auftraf. Er hatte seitdem nicht mehr an ihn gedacht. Slobodan und er hatten sich vollaufen lassen, aber in dieser Nacht erschien ihm die Blutwalze in seinen Träumen zum erstenmal.
Vuk schüttelte sich und setzte sich ins Gras.
»Mir hilft es. Ja, es wird kühler«, hörte er Mike sagen, aber die Stimme schien meilenweit entfernt. Er mußte sich zusammenreißen. Es waren destruktive Gedanken.
»Wir sollten lieber nach Hause fahren«, sagte Vuk und hoffte, daß das Zittern seiner Stimme unbemerkt blieb. Aber Mike hörte nichts. Es sah aus, als hätte er sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Er blickte auf den hohen, verwitterten Grabstein und fragte: »Bist du Däne? Was das auch heißen mag. Wenn jemand
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