Der Feind in deiner Nähe
bestellten uns etwas ganz Einfaches zu essen, nur Risotto und Salat. Charlie trank ein Glas Weißwein, während ich beim Wasser blieb. Wir aßen angespannt, fast schweigend, als würden wir einander noch nicht lange kennen und uns erst einmal vorsichtig umkreisen.
Charlie kam mir irgendwie anders vor. In den vergangenen Wochen war er oft schweigsam und gereizt gewesen, unzufrieden und verbittert. Zum Teil hatte er sich das selbst zuzuschreiben, und diese Tatsache hatte mich ebenfalls wütend gemacht, was wiederum zur Folge hatte, dass er noch unzufriedener wurde und ich immer noch wütender. Andrerseits war sein Zorn aber auch eine weiß Gott verständliche Reaktion auf mein Verhalten gewesen. Manchmal hatte ich das Gefühl gehabt, als wäre das, was als Ehe begann, zu einem psychologischen Experiment verkommen, bei dem zwei Menschen in einem Raum zusammengesperrt waren, damit sie sich gegenseitig zu Tode quälten.
Jetzt erschien er mir viel ruhiger, fast schon zufrieden, als hätte er alles unter Kontrolle – als könnte er mich beschützen. Er hatte, was uns betraf, seine Entscheidung getroffen. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich bei Charlie noch nie gesehen. Er weckte in mir das Bedürfnis, mich in seine Arme zu flüchten.
Gleichzeitig verspürte ich aber auch den Wunsch, mich in ein tiefes, dunkles Loch zu verkriechen und dort zu schlafen, bis es wieder Frühling wurde. Ich entschied mich für das Nächstlie-gende: Ich aß ein paar Bissen Risotto, nahm einen Schluck von Charlies Wein und stieg dann in das Taxi, das er für uns bestellt hatte. Zu Hause ließ er mir ein Bad ein, und nachdem ich eine ganze Weile in der Wanne gelegen hatte, ging ich ins Bett. Dort lag ich und starrte die scheußliche Skulptur an, bis Charlie mit einer Tasse Tee und einem Keks hereinkam. Ich fühlte mich fast wieder wie ein Kind. Er schaltete das Licht aus und blieb noch einen Augenblick im Türrahmen stehen.
Am nächsten Morgen fand ich im Büro eine Nachricht von eYel vor. Sie bestand nur aus dem Namen der Bar ganz in der Nähe unseres Büros, wo Craig sich nach der Arbeit mit mir treffen wollte. Dass ich seiner Firma dieses Päckchen geschickt hatte, war mir inzwischen äußerst peinlich. Vielleicht konnte ich das Ganze als Scherz hinstellen oder als liebenswerte Macke …
Ich bat Lola, mir in dem Café gegenüber zwei doppelte Espressos zu besorgen. Als sie damit zurückkam, ging ich mit beiden Tassen zu Meg, die mich mit grimmiger Miene empfing.
»Vielleicht solltest du mich begleiten«, sagte ich.
»Du brauchst mich nicht.«
»Ich glaube, ich brauche dich viel zu sehr.«
»Er hat ausdrücklich gesagt, dass er sich mit dir treffen will.«
Ich nahm einen großen Schluck Kaffee. Dass ich mir dabei die Zunge verbrannte, war mir nur recht. Megs Tasse stand noch unberührt auf ihrem Schreibtisch.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Was?«
»Musst du die Existenz unserer Firma eigentlich jeden Tag von neuem aufs Spiel setzen? Wir sind nicht alle so wie du. Wir brauchen nicht so viel Aufregung.«
Schon in dem Moment, als ich Craig an der Bar sah, wusste ich, dass es gut ausgehen würde. Er hatte bereits einen halben Martini intus und lächelte breit, als er mich erkannte. Er wollte für mich ebenfalls einen Drink bestellen, aber ich lehnte ab. Ich würde mich erst einmal mit Wasser begnügen.
»Sie sind verrückt.« Mit diesen Worten leerte er sein Glas und bestellte ein zweites. »Das war genau das, was wir gebraucht haben. Jemanden, der nicht in den üblichen Mustern denkt. Hier, hören Sie sich das an.«
Der Gedichtband lag neben seinem Martiniglas auf der Theke.
Er griff danach und trug ein Gedicht vor. Es fiel mir schwer, ihm zu folgen.
»Ist das nicht großartig? Ich habe seit meinem Studium in Oxford kein Gedicht mehr gelesen. Und dieses Ding hier …« Er zog das Gerät für den flüssigen Honig aus der Tasche. »Es ist ein Gebrauchsgegenstand«, sagte er, »und trotzdem hat es etwas Witziges. Ich habe es ein paar Leuten gezeigt, und allen gefiel es.«
»Ich fand es auch witzig«, antwortete ich. Im Grunde war das so ziemlich das Einzige, was ich zu dem Gespräch beitrug. Ich fühlte mich viel zu wirr im Kopf, um etwas Vernünftiges zu sagen, sodass ich Craig einfach von seiner Designfirma erzählen ließ und an den richtigen Stellen nickte, um den Eindruck intensiven Nachdenkens zu erwecken. Und hin und wieder lächelte ich, als wäre ich auch ganz bei der Sache.
Nach einer Stunde stand er auf und gab mir
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