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Der Feind meines Vaters - Roman

Der Feind meines Vaters - Roman

Titel: Der Feind meines Vaters - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almudena Grandes
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»Kann ich nicht.«
    Als wir in die Schule kamen, sprach uns Don Eusebio sein Beileid aus und ließ uns ansonsten in Ruhe. Während des ganzen Nachmittags fragte er uns weder ab noch rief er uns an die Tafel. Als ich später von der Schule nach Hause kam, wollte Mutter, ganz in Schwarz und verschleiert, gerade das Haus verlassen. Sie erzählte mir, was am Morgen geschehen war, und dass Michelin vor Wut schäumte, weniger wegen der Erniedrigung durch seinen Vorgesetzten als wegen der durchaus berechtigten Sorge, dass Sanchís’ Selbstmord und seine eigene Fehleinschätzung der Situation vorher und nachher ihn seine Beförderung kosten könnten, die ersehnte Versetzung in die Hauptstadt, von der seine Frau seit vielen Jahren träumte.
    »Auf dem Bett liegen saubere Sachen.« Sie deutete auf die Tür des Kinderzimmers, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen. »Dein Vater möchte, dass du zur Aufbahrung kommst. Dulce ist bereits dort.«
    »Das können sie doch nicht machen, Mutter«, sagte ich leise, um sie nicht noch mehr zu ängstigen. »Dazu haben sie kein Recht.«
    »Natürlich können sie, mein Sohn.« Sie kam auf mich zu und umarmte mich heftig, so wie sie es immer tat, wenn sie Angst hatte, dass uns jemand hören konnte. »Schau, Nino, sie können machen, was sie wollen, immer, und wir müssen so gut wie möglich da durch, ich bitte dich darum. Sanchís hat es so gewollt, es ist seine Schuld, er wusste sehr gut, welches Risiko er einging, und du … Du darfst nichts sagen, du darfst mit niemandem darüber reden, was gestern Nacht passiert ist. Du gehst hin, gibst Pastora einen Kuss, bleibst eine Weile und sagst dann, du müsstest nach Hause, um zu lernen. Morgen ist ein neuer Tag, hast du verstanden?«
    »Trotzdem«, beharrte ich, und sie drückte mich noch fester an sich. »Es ist nicht recht, Mutter.«
    »Nino, bei Gott, ich bitte dich bei dem, was du am meisten liebst … Das Recht nützt nur den Lebenden, mein Junge. Den Toten ist es egal.«
    »Keine Angst, Mutter.« Ich verzichtete darauf, ihr zu erklären, dass ich an die Lebenden gedacht hatte und nicht an die Toten. »Mach dir keine Sorgen, ich werde mich benehmen. Ich verspreche es dir.«
    Ich hielt mein Versprechen und benahm mich, weil mir nichts anderes übrigblieb. Als ich den Fahnensaal betrat, fand ich mich in einer imposanten Szene wieder. Der Sarg stand leicht erhöht auf einem Podium, umgeben von den großen, schmiedeeisernen Kerzenständern aus der Kirche, die Don Bartolomé ohne zu zögern zur Verfügung gestellt hatte. Die Kerzen brannten, drei auf jeder Seite, und warfen ein gespenstisches Licht auf Miguel Sanchís’ uniformierte Leiche, die von der Hüfte an in eine spanische Flagge gehüllt war. Die drei Orden steckten auf der Brust, und in den gefalteten Händen hielt er einen Rosenkranz. Unter dem Dreispitz sah man Teile eines voluminösen Verbandes, der die Hälfte der Stirn verdeckte, als hätte man die genaue Bahn der tödlichen Kugel verbergen wollen, aber auf seinem Gesicht lag ein heiterer, ruhiger Ausdruck, keine Spur von der Strenge, mit der er früher die Lippen aufeinandergepresst hatte, wenn er wütend war. Miguel Sanchís war ein ruhiger, von nervösen Lebenden umgebener Toter, denn der Leutnant, Vater und seine Kollegen saßen reglos, mit kreidebleichen, verzerrten Gesichtern auf ihren Plätzen, ohne zu sprechen, ohne sich anzuschauen, steif wie eine Formation von Bleisoldaten. Ihr Verhalten unterschied sich deutlich von dem der Zivilisten, Don Justino, Don Carlos, Doña Felisa, des Apothekers, des Bürgermeisters und einiger anderer, die sich unterhielten, aufstanden, hinausgingen, um draußen eine Zigarette zu rauchen, wieder hereinkamen, lächelten und gelegentlich mit einem Glas Wein in der Hand sogar einen Witz erzählten, so wie bei jeder anderen Totenwache.
    Pastora saß allein am Ende des Sarges. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Witwen, die ich bei anderen Gelegenheiten gesehen hatte, weder schrie noch schluchzte sie, verfluchte die Mörder ihres Mannes oder raufte sich die Haare. Im Gegenteil, sie wirkte ebenfalls gefasst und ruhig, fast wie eine Tote, wären nicht die Tränen gewesen, die ihr langsam über die Wangen liefen. Sie hatte die Beine nebeneinandergestellt, die reglosen Hände im Schoß, den Blick auf den gekachelten Boden gerichtet, und hob nicht einmal den Kopf, als ich auf sie zuging.
    »Pastora«, sagte ich, und da sah sie mich an, schloss die Lider, öffnete sie und nickte kaum merklich.

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