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Der Feind meines Vaters - Roman

Der Feind meines Vaters - Roman

Titel: Der Feind meines Vaters - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almudena Grandes
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an dem Tag, an dem Cencerro sich umbrachte, in dem Moment, als ich den Löffel fallen ließ und aufstand, fielen mir diese Tage wieder ein, und mir wurde sofort bewusst, dass alles anders war.
    Sobald sich oben in den Bergen etwas tat, egal wie weit weg es sein mochte, riefen die Frauen in meinem Dorf ihre Kinder von der Straße, schlossen sie zu Hause ein und ließen sie nicht einmal mehr im Hof spielen, bis mindestens ein Tag lang wieder alles normal war. Das war in allen Häusern gleich, bei den Falangisten ebenso wie bei den Kommunisten. Die Kinder wurden weggesperrt aus Angst vor dem, was passieren konnte, denn schließlich war es ein Krieg, der nie enden würde. Mutter hatte uns keine Erklärungen gegeben, doch dieses Mal war es anders, Vater sprach mit uns, und er klang sehr ernst.
    »Sie dürfen euch nicht hier antreffen. Zu eurem eigenen Wohl. Habt ihr verstanden?«
    Ich sah in seine Augen und entdeckte darin einen unbekannten Schmerz, unbekannt nicht nur wegen seiner Intensität, sondern auch wegen seiner verwirrenden Natur, einer Mischung aus Traurigkeit, Wut und Scham. Vater war mir noch nie so klein und zugleich so groß erschienen, so erniedrigt und so stolz, und er hatte noch nie eine solche Autorität ausgestrahlt wie an jenem Nachmittag, von der mich weder die Fragen, die mir auf den Lippen brannten, noch der umgefallene Stuhl auch nur eine Sekunde ablenken konnten.
    »Nicht durch die Tür, besser ihr klettert aus dem Fenster. Ich sehe nach, ob die Luft rein ist.«
    Als Vater ins Schlafzimmer ging, nahm ich Pepa an die Hand, trat zu Mutter und stellte mich auf die Fußspitzen, um ihr ins Ohr zu flüstern. Vorsichtshalber legte ich mir einen verschwörerischen Ton zu, als ich meine wahnwitzige Vermutung äußerte, doch sie war das einzige, was mir einfiel, um zu verstehen, was gerade geschah.
    »Ist Vater denn ein Roter?«
    Sie, die immer noch vor Schreck erstarrt schien, drehte sich unvermittelt um, riss die Augen auf und hob die Hand, als wollte sie mich schlagen. Dann murmelte sie schroff und eindringlich, doch ohne die Stimme zu erheben:
    »Red keinen Unsinn, Nino! Wie soll Vater ein Roter sein, wenn er doch bei der Guardia Civil ist?«
    Diese absurde Vorstellung, die meinen Verstand mit einem furchterregenden, wilden Glanz überflutet hatte, löste sich so schnell auf, wie sie entstanden war, obwohl wir an jenem Nachmittag aus dem Haus flohen, als wären wir die Kinder eines Roten, durch das einzige Fenster, das nicht auf den gemeinsamen Innenhof hinausging, sondern in den Hinterhof. Dort befanden sich die Vorratskammer und die Hühnerställe, zu denen man nur durch zwei Fenster oder ein kleines Tor gelangte, das die beiden Höfe miteinander verband. Eines der Fenster gehörte zu einem von Curros Zimmern, das er kaum benutzte. Vater half uns, aus dem anderen Fenster im Schlafzimmer zu klettern, und kam mit, um uns die Tür aufzuschließen, die auf die Straße führte.
    »Und das?« Er gab mir einen Kuss zum Abschied und zeigte auf den Korb.
    »Gehört dem Portugiesen«, erklärte ich. »Er hat mir gestern Feigen für Mutter gegeben, ich muss den Korb zurückbringen.«
    »Na gut. Falls dich jemand fragt, erzählst du ihm das. Pass gut auf deine Schwester auf, und rührt euch nicht von da weg, bis wir euch holen kommen.«
    »Und wenn Pepe nicht zu Hause ist?«
    »Dann bleibt ihr trotzdem dort.«
    Die Straße zur alten Mühle war mir noch nie so steil erschienen wie an diesem Nachmittag. Pepa, die erst vier war, ging so langsam wie eine Schnecke. Immer wieder blieb sie stehen und jammerte, doch es war nicht nur das. Cencerros Tod, der mir damals wie das Ende der Welt erschien, das Ende des Lebens, das ich gelebt hatte, der Dinge, die ich gekannt hatte, wog schwerer als der Körper meiner Schwester, die mich auf halbem Weg zwang, sie zu tragen, aber nicht so schwer wie Vaters seltsames Verhalten. Egal ob rot oder nicht, er führte sich auf, als wäre er verrückt geworden. Doch das war nicht einmal das Schlimmste. Es war brütend heiß, die Sonne brannte mir auf den Kopf, und mein Magen knurrte, ich hatte Hunger und Durst, Pepa quengelte auf meinem Arm, weil sie nicht wusste, wohin wir gingen, was los war, und trotzdem war nichts so schwer und schrecklich wie die Vorstellung, dass wir am Ende des Weges nicht auf den Portugiesen stoßen könnten.
    »Nino?« Als ich seine Stimme hörte, stellte ich meine Schwester auf den Boden, schloss die Augen und lächelte. »Nino? Bist du das?«
    »Ja, ich

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