Der Feind meines Vaters - Roman
wenig Ahnung gehabt hatte. Wenn du wüsstest, dachte ich, während er davon redete, dass ich ja nicht mal mitgekriegt hätte, wie in Torredonjimeno ein weiterer signierter Geldschein aufgetaucht war, dass die Banditen einen Tag vor ihrem Tod noch das Postamt von Castillo de Locubín überfallen hätten, dass sein Vater überzeugt wäre, dass die Druckerpresse nicht in Fuensanta sein konnte. Mensch, Nino! Du kriegst aber auch gar nichts mit! Und ich grinste und sagte, nein, doch hin und wieder erschreckte ich ihn.
»Comment allez-vous?«
»Was?«
»Comment allez-vous?«
»Was soll denn das sein?«
»Na, Französisch! Was sonst? Du kriegst aber auch gar nichts mit, Paquito.«
Doña Elena kannte sich mit viel mehr als nur Schreibmaschine und Stenographie aus. Ich hatte noch nie jemanden kennengelernt, der so viel wusste wie sie, nicht einmal Don Eusebio, der uns anhand von Namen und Schlachten Geschichte beibrachte, oder wenn er uns in Literatur abfragte, mit der Faust auf den Tisch schlug, als wäre er böse, und brüllte: Nachname des Schriftstellers, Geburtsdatum, Geburtsort und Hauptwerke! So war sie nicht. Sie erzählte Geschichten, und sie kannte so viele, dass sie ihr nie ausgingen. Erfundene und wahre Geschichten, fröhliche und grausame, komische und traurige. Zuerst erschienen sie groß, doch in Wirklichkeit waren sie klein, weil sie immer nur Teil einer noch größeren Geschichte waren, einer unendlichen Geschichte, die sich viele Erwachsene wie sie und Kinder wie ich im Laufe der Jahrhunderte ausgedacht hatten. Die Geschichte der Weisheit, die Geschichte der Neugier, die der Erkenntnis und des Hungers nach Wissen, die Geschichte desjenigen, der viel weiß und demjenigen etwas abgibt, der nichts weiß, damit die Geschichte, statt sich zu zerfransen, immer größer und stärker wird und niemals endet.
In diesem von meiner Unwissenheit verklärten Frühling brachte mir Doña Elena viel mehr bei als Stenographie und Maschinenschreiben, und später, als ich diese Naivität verlor, noch mehr. Zum Beispiel lernte ich, wer Odysseus und Newton, El Cid und Almansor waren, dass es einen hundertjährigen Krieg gegeben hatte, und ein Musiker namens Wolfgang Amadeus Mozart in der letzten Nacht seines Leben an einer Totenmesse gearbeitet hatte. Sie brachte mir Gedichte, Lieder, Strophen, Refrains bei und viele Worte in den verschiedensten Sprachen, vor allem aber zeigte sie mir einen anderen Weg auf, eine andere Art, die Welt zu betrachten, und erklärte mir, warum die wirklich wichtigen Fragen immer wichtiger sind als ihre Antworten.
» How do you do , Paquito?«
»Hör mir auf mit deinem Französisch!«
»Das ist kein Französisch, es ist Englisch, du Esel …«
»Wirklich, Knirps, du bist so komisch geworden, dass man sich kaum noch mit dir unterhalten kann.«
Es stimmte, ich wurde komisch, und das Beste daran war: Es gefiel mir. Ich war noch nie so glücklich gewesen wie an den Tagen, an denen es gar nicht nötig war, dass Mutter mir Hausarrest erteilte und sogar den Hof verbieten musste, weil ich ohnehin viel lieber zu Hause blieb und las, wenn ich nicht zur Mühle durfte, um den Portugiesen zu besuchen oder auf dem einen oder anderen Weg zu dem kleinen alten Haus ging. Und während ich auf Sternenwolken durchs Weltall schwebte oder bis ins glühende Magma in der Tiefe des Planeten hinabstieg, waren die Romane von Jules Verne, die mir Doña Elena geliehen hatte, für mich mehr als nur Bücher. Sie wurden zum Privileg eines sehr kleinen Jungen, der noch nie einen Grund gehabt hatte, glücklich zu sein, ein Bindeglied zwischen meinen beiden Leben. Ein geheimer Tunnel verband die kahlen Wände des Kinderzimmers in der Wohnkaserne mit den Obstkisten, die in einem bescheidenen, weiß getünchten Raum eine ausgewählte, lebendige Bibliothek beherbergten.
Jules Vernes Romane waren auch ein Vorwand für Fragen an meine Lehrerin: über Geschichte, Geographie, Physik, Sextanten, Ballons, Unterseeboote, Navigationsrouten, die Heldentaten der großen Entdecker, den Alltag in einem Labor und all die verrückten und zugleich klugen Wissenschaftler, die eine Fülle von Fehlern begingen, dann aber auf unerwarteten Umwegen zu den großen Entdeckungen ihres Lebens gelangten. Ebenso führten mich Vernes Bücher zu anderen Werken und Autoren, die ich mit derselben Gier verschlang, weil sie mir ebenfalls neue, faszinierende Welten eröffneten. Und ich erforschte sie, indem ich eine Frau, die immer eine Antwort hatte, über
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