Der Feind
Operationsabteilung versetzt zu werden, doch sein schwächlicher Körperbau verhinderte, dass er das Ziel erreichte. Abel war einen Meter achtundsiebzig groß, doch damals wog er nur an die fünfundsechzig Kilo. Er nahm jedoch allmählich zu und trainierte jede freie Minute – in der Hoffnung, doch noch die körperlichen Anforderungen zu erfüllen, um vom Schreibtisch wegzukommen.
Im vierten Jahr wurde er für seine Mühen belohnt, indem er in die Operationsabteilung versetzt wurde, wo er bei der systematischen Entführung von Besuchern aus dem Westen mitwirkte. Abels Aufgabe war es, passende Zielpersonen ausfindig zu machen, und manchmal auch, sie in eine Falle zu locken. Es kam ihm zugute, dass er mit seinem Babyface und seiner schmächtigen Statur wie ein Teenager wirkte. Homosexuelle Geschäftsleute, die in den Osten kamen, wurden so zur leichten Beute für eine Erpressung. Abel wartete an einer Straßenecke, in einem Park oder einem Lokal auf Männer, die Interesse zeigten. Wenn er dann ein Handzeichen gab, stürmten seine Kollegen heran, überwältigten den Mann und steckten ihn in einen Wagen. Man gab dem Betreffenden zu verstehen, dass er sich entscheiden musste, ob er eine Gefängnisstrafe und öffentliche Schmach auf sich nehmen wolle oder ob er es vorzog, sich die Freiheit zu erkaufen. Nach den vielen Jahren, die seither vergangen waren, erinnerte sich Abel nur an einen Einzigen, der nicht bereit war, zu zahlen. Dieser sture Kerl landete schließlich in einer sehr unwirtlichen Zelle, wo er monatelang geschlagen und zuletzt von einem sadistischen Stasi-Offizier erdrosselt wurde.
Eine Entführung brachte für gewöhnlich einige tausend Mark ein. Die Stasi hatte Kontaktpersonen in fast allen westlichen Banken, und sie zogen stets vorher Erkundigungen ein, ehe sie den Preis für die Freiheit nannten. Sein größter Fang war ein westdeutscher Adeliger, der ihnen eine halbe Million Dollar einbrachte. Abel schätzte, dass seine Einheit allein in zweieinhalb Jahren mehr als fünf Millionen Dollar »erwirtschaftet« hatte.
Danach wurde er in die Abteilung für Spionageabwehr versetzt, was ihm Gelegenheit gab, öfter nach Westdeutschland zu reisen. Er war gerade dabei, sich so richtig in die Spionagetätigkeit zu vertiefen, als schließlich alles zusammenbrach. Schon Monate vorher hatte er seine Vorgesetzten darauf hingewiesen, dass sich die bedrohlichen Anzeichen verdichteten, doch sie waren einfach zu sehr damit beschäftigt, immer wieder nach Moskau zu pilgern und ihren wahren Chefs vom KGB in den Hintern zu kriechen. Niemals hätten sie es gewagt, den selbstherrlichen Typen vom KGB gegenüber einzugestehen, dass sie im Begriff waren, die Kontrolle über den westlichsten europäischen Satellitenstaat der Sowjetunion zu verlieren. Wer solche Nachrichten überbrachte, musste damit rechnen, mit einer Kugel im Kopf zu enden.
Abel hatte die wirtschaftliche Seite des Ost-West-Konflikts genau studiert. Er wusste, dass die Zahlen, die von den Regierungen der DDR und der Sowjetunion verbreitet wurden, gefälscht waren. Er hatte es sich zur Regel gemacht, alle Zahlen zu halbieren, um die Übertreibungen und Fehlinformationen auszugleichen. Im Westen war die Sache ganz anders. Die Kapitalisten mit ihren Privatunternehmen hatten die Pflicht, ihren Aktionären offen und ehrlich Auskunft zu geben. Eine erstaunliche Menge von Daten war öffentlich zugänglich. Und wenn Abel die Zahlen von Ost und West verglich, kam er immer zur gleichen Schlussfolgerung. Der Westen war wirtschaftlich einfach um vieles stärker – ja, der Osten war längst im Begriff, an seinen eigenen Lügen und den wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten zugrunde zu gehen. Die entsprechenden Daten waren für jeden ersichtlich, der nicht die Augen davor verschloss. Das allein hätte schon gereicht, doch Abel sah noch etwas, das mindestens genauso alarmierend war.
Die kommunistischen Diktatoren setzten zwei Mittel ein, um sich an der Macht zu halten. Das erste war Einschüchterung. Die Menschen wussten, dass Telefone abgehört wurden und dass die Geheimpolizei ihre Augen und Ohren überall hatte. Man musste damit rechnen, mitten in der Nacht aus dem Bett geholt zu werden und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, wenn man sich kritisch über die Regierung äußerte. Das zweite Werkzeug der Regierung war keine Bedrohung für Leib und Leben, sondern eine Waffe, die auf den Geist, das Denken der Menschen abzielte. Diese Waffe waren die staatlich kontrollierten
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