Der Feind
buchstäblich zerrissen. Als der Krieg zu Ende war, hatte Anibal nichts anderes kennengelernt als Gewalt. 1995 ging er mit seiner Mutter und zwei Schwestern nach Amerika. Sein Bruder blieb in der Heimat und verlegte sich auf Drogenhandel. Anibals Familie wurde von einer Gruppe christlicher Missionare unterstützt und landete schließlich in der Gegend von Washington. Anibal bemühte sich nie um einen Job. Durch seinen Dienst in der FMLN war er fast automatisch auch ein Mitglied von MS-13. Die ersten sieben Jahre in Washington waren relativ einfach gewesen. Die Mara Salvatrucha stand unter Beobachtung des FBI, und die Anti-Drogenbehörde DEA hatte noch nicht erkannt, wie groß der Einfluss der Gruppe in Wirklichkeit war. Die Cops hielten sie für eine der vielen hispanischen Gangs, die mit Drogenhandel und Autodiebstahl zu tun hatten.
Nachdem immer wieder Bandenmitglieder getötet wurden oder ins Gefängnis wanderten, stieg Anibal rasch in der Hierarchie auf. Heute, mit vierunddreißig, war er für das gesamte Prince William County und einen großen Teil von Fairfax County verantwortlich. So wie die Cosa Nostra früher dehnte auch die MS-13 ihre Aktivitäten auf Glücksspiel und Prostitution aus. Hätten sie sich damit zufriedengegeben, so hätten sie wohl noch eine ganze Weile unbemerkt weitermachen können, doch sie begingen zwei gravierende Fehler. Der erste war, dass sie begannen, sich auf Erpressung und Entführung einzulassen – zwei Aktivitäten, denen das FBI besondere Aufmerksamkeit widmete. Der zweite Fehler war, es so weit kommen zu lassen, dass die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Banden in den Medien behandelt wurden. Es machte dem gesetzestreuen Bürger zwar wenig aus, wenn sich Mitglieder rivalisierender Gangs gegenseitig umbrachten, aber wenn unschuldige Menschen dabei zu Schaden kamen, so erregte das verständlicherweise Zorn, der sich in erster Linie gegen die verantwortlichen Politiker richtete. Diese wiederum erhöhten in dem Bestreben, an der Macht zu bleiben und wiedergewählt zu werden, den Druck auf die Polizei, solche Auswüchse zu unterbinden.
Das Ergebnis war, dass die MS-13 sowohl von der lokalen Polizei als auch vom FBI in die Mangel genommen wurde. Der Drogenhandel wurde immer schwieriger, und mit Erpressung und Entführung landete man mit immer höherer Wahrscheinlichkeit hinter Gittern. Castillo konzentrierte sich gezwungenermaßen auf Autodiebstahl, womit im Vergleich zu anderen Aktivitäten höchstens ein Taschengeld zu verdienen war. Der geheimnisvolle Mann, mit dem er erst einmal zu tun gehabt hatte, tauchte genau im richtigen Moment auf. Seine Leute wurden langsam unruhig; sie brauchten wieder einmal etwas Richtiges zu tun. Autos zu stehlen war für die Teenager durchaus in Ordnung, aber die reiferen Männer betrachteten das als niedere Tätigkeit. Sie wollten wieder einmal richtig zur Sache gehen und ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, und das hier war die ideale Gelegenheit dazu.
Castillo trat zu dem ersten der drei schwarzen Fahrzeuge. »Wie lange noch?«, fragte er einen seiner Männer.
Der Mann, der sich unter der Motorhaube zu schaffen machte, blickte zu ihm auf. »Zehn Minuten«, antwortete er.
Castillo blickte auf seine digitale Uhr; es war 18:23 Uhr. Der Mann mit dem merkwürdigen Akzent sollte jeden Moment hier sein. »Wie steht es mit den beiden anderen Wagen?«
»Die sind fertig.«
Castillo ging zum nächsten Suburban weiter. Alle drei Autos waren in den vergangenen fünf Stunden gestohlen worden. Die Kennzeichen wurden ausgetauscht, und es wurden Polizeiblinklichter angebracht.
»Hey, Boss«, meldete sich einer seiner Männer, der mit einem blauen Overall und einer Baseballmütze in der Hand auf ihn zukam. »Müssen wir das hier wirklich anziehen?«
Castillo machte sich nicht die Mühe, etwas zu sagen. Er sah den Mann mit einem eisigen Blick an, als überlege er, ob er ihn auf der Stelle töten solle.
Der Mann trug ein weißes Wifebeater-T-Shirt und extra weite Shorts. Er blickte auf die blaue FBI-Kappe hinunter und schüttelte den Kopf.
»Willst du vielleicht ins Gefängnis wandern, du verdammter Idiot?«, stieß Castillo hervor und hoffte fast, der Mann würde ihm einen Vorwand liefern, dass er ihn zu Tode prügeln konnte. Das wäre eine gute Lektion für die anderen gewesen.
»Nein, Boss«, sagte der Mann und war klug genug, Castillo nicht in die Augen zu sehen.
»Wie stellst du dir vor, dass wir nach Leesburg kommen, ein paar
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