Der Feind
Ärmel hatte.
Die erste Nachricht, die sie vor fast vierundzwanzig Stunden abgeschickt hatte, war nichts anderes als eine aufrichtige Entschuldigung gewesen. Anna Rielly war ein Fehler. Es tut mir leid. Ich bedauere zutiefst, den Auftrag übernommen zu haben. Falls Sie wissen möchten, wer mich angeheuert hat, wäre ich eventuell bereit, darüber zu reden. Claudia überlegte, ob sie die Nachricht für sich selbst und Louie verfassen sollte, entschied sich aber dagegen, da er ja kein bisschen Reue gezeigt hatte und außerdem gerade versuchte, den Auftrag zu Ende zu bringen. Sie hätte sich selbst etwas vorgemacht, wenn sie ihn in die Entschuldigung miteinbezogen hätte. Sie schickte die Botschaft ab und ging zu Bett. Es war Samstagnacht, und sie erwartete, nicht vor Montag von Irene Kennedy zu hören. Am Sonntag wachte sie mit einem Bärenhunger auf und ließ sich das Frühstück aufs Zimmer bringen. Es gelang ihr, das Essen zu behalten, und sie sah das als gutes Zeichen und ging hinaus, um einen längeren Spaziergang am Strand zu unternehmen. Dabei dachte sie vor allem an ihren Vater und ihre Mutter und bemühte sich, nicht an Louie zu denken. Zum ersten Mal seit drei Jahren überlegte sie ernsthaft, ob sie nicht ihre Eltern anrufen sollte, und als sie wieder in ihrem Zimmer war, beschloss sie, ihren Gedanken in die Tat umzusetzen.
Zuerst überprüfte sie jedoch ihre verschiedenen E-Mail-Accounts und fand Irene Kennedys Antwort. Sie lautete: Wie kann ich wissen, ob Sie wirklich der sind, der Sie vorgeben zu sein, und nicht irgendein Wichtigtuer?
Claudia hatte mit der Möglichkeit einer solchen Antwort gerechnet. Sie überlegte eine Weile, wie sie antworten sollte, und tippte schließlich folgende Nachricht: Wir haben ein GPS-Ortungssystem und Wanzen in Ihrem Wagen installiert und erfuhren so von der bevorstehenden Knieoperation. Als Sie ins Krankenhaus fuhren, ließen wir das Gas ins Haus strömen und warteten, bis Sie zurück waren. Mein Partner verbarg sich im Wald gegenüber dem Haus. Ihr sollte eigentlich nichts passieren.
In den nächsten beiden Stunden sah sie alle fünfzehn Minuten nach, ob eine Antwort eingetroffen war. Die nächste Nachricht der CIA-Direktorin lautete schließlich: Wer hat Sie angeheuert, und warum?
Claudia reagierte prompt mit folgender Antwort: Erich Abel. Er ist ein ehemaliger Stasi-Offizier mit Wohnsitz in Wien. Er agierte als Mittelsmann. Für wen, weiß ich nicht, aber ich glaube, für die Saudis. Ich habe nie zuvor mit ihm zusammengearbeitet. Danach stand Claudia auf; sie war ein wenig außer Atem und stellte überrascht fest, dass sie schwitzte.
Es waren fast acht Stunden vergangen, seit sie die letzte Nachricht abgeschickt hatte, und sie hatte ihre Inbox seither nur einmal überprüft. Die Nachricht, die sie diesmal von der CIA-Direktorin vorfand, lautete schlicht: Warum tun Sie das?
Gute Frage , dachte Claudia, aber nicht leicht zu beantworten. Fast drei Stunden rang sie um eine Antwort und fragte sich, ob sie nicht zu viel preisgab – doch am Ende war ihr das egal. Die Erklärung fiel sehr lange aus; sie erläuterte, dass sie sich selbst dafür verachtete, mit der Sache zu tun zu haben, und dass sie und ihr Partner sich nach dem Misslingen des Auftrags getrennt hatten. Zuletzt fügte sie noch zwei Details an; das erste waren die Namen der fünf Schweizer Banken, über die Abel das Geld hatte überweisen lassen. Claudia gab alle Bankleitzahlen, Daten und die genauen Teilbeträge an, weil ihr bewusst war, dass die Konten möglicherweise nicht auf Abels Namen lauteten. Es gab schließlich noch eine letzte Information, die sie loswerden wollte, wenngleich sie nicht wusste, ob sie den Mut dazu würde aufbringen können.
Über eine Stunde rang sie mit sich selbst und brach zwischendurch in Tränen aus, bis sie der inneren Stimme aus ihrer Jugend schließlich nachgab – der Stimme ihres Gewissens. Immer wieder redete ihr diese Stimme zu, dass es wohl schwierig sei, dass sie sich danach aber besser fühlen würde – und so war es auch. In dem Moment, als sie die Nachricht abgeschickt hatte, war es ihr, als hätte man ihr eine zentnerschwere Last vom Herzen genommen.
Claudia schaltete den Computer aus und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie wusste, dass nichts, was sie tat, Anna Rielly ins Leben zurückrufen konnte, doch sie hoffte, dass sie wenigstens klarmachen konnte, wie sehr sie bedauerte, was geschehen war. Sie war weiter gegangen, als sie sich vorgenommen
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