Der Feind
hatte, und hatte viel mehr preisgegeben, als klug war. Die ausführliche letzte Nachricht verriet einfach zu viel und stand damit im Gegensatz zu allem, was sie gelernt hatte – und was ihr bisher geholfen hatte, um zu überleben. Etwas in ihr kümmerte sich gar nicht mehr darum, ob sie geschnappt wurde oder nicht. Sie hatte sich von einer schweren Last befreit, und sie war bereit für alles, was das Leben ihr nun bringen mochte. Sie würde ganz von vorne anfangen und zu ihren Wurzeln zurückkehren. Sie würde heimgehen zu ihren Eltern, ihr Kind zur Welt bringen und ein neues Leben beginnen.
Es klopfte an der Tür, und Claudia erstarrte. Sie nahm sofort das Schlimmste an. Sie hätte das Hotel wechseln sollen. Irgendwie waren sie ihr auf die Spur gekommen – mithilfe irgendeiner neuen Technologie, von der sie noch nichts wusste. Ihr professioneller Instinkt setzte ein, und sie begann rasch nach einer Waffe zu suchen – doch schließlich ließ sie es sein. Wenn die CIA sie tatsächlich aufgespürt hatte, gab es ohnehin kein Entkommen mehr. Wenn Louie hier gewesen wäre, hätten sie sich vielleicht aus der Situation befreien können, aber sie war nun einmal kein Killer. Claudia stellte sich vor, wie sie auf der anderen Seite der Tür standen – bewaffnete Männer in schwarzer Montur, die jeden Moment die Tür eintreten würden. Sie blickte über die Schulter zum Balkon hinaus. Etwa zehn Meter darunter erstreckten sich die zerklüfteten Felsen und die Meeresbrandung.
Claudia sammelte sich und wischte sich die feuchten Hände an den Shorts ab. Mit aufrechtem Gang schritt sie durch das Zimmer, bereit, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Nein, sie würde nicht weglaufen. Claudia machte sich nicht einmal die Mühe, durch den Spion zu schauen. Sie schloss die Tür auf und öffnete sie – und erlebte eine faustdicke Überraschung.
»Du bist wirklich nicht leicht zu finden«, sagte Louie. »Hast du eine Ahnung, wie viele Hotels es in Ixtapa und Zihuatanejo gibt?«
Claudia war sprachlos.
»Es tut mir leid, Liebling. Du hattest recht. Ich war im Unrecht.« Gould reichte ihr einen Blumenstrauß. »Wir hätten den Auftrag nicht annehmen sollen.«
Claudia nahm die Blumen und wurde von widerstrebenden Gefühlen erfüllt. Noch vor einer Minute war sie mehr als bereit gewesen, neu anzufangen, doch jetzt geriet sie ins Wanken. Verzweifelt versuchte sie zu ergründen, was ihr widerfuhr. Sie fragte sich, wie tief ihre Gefühle für Louie waren und wie ernst seine Worte gemeint waren.
»Ich kann mir kein Leben ohne dich vorstellen«, fuhr Louie fort. »Meinst du, du kannst mir verzeihen?«
Es war diese einfache Bitte um Vergebung, die sie berührte. Es war etwas, das ihr die Nonnen als Kind eingebläut hatten: Wer Vergebung erlangen will, muss selbst bereit sein zu vergeben.
63
ZÜRICH, SCHWEIZ
Irene Kennedy hatte ihre Zweifel gehabt, als die erste E-Mail kam. Gewiss war sie bemerkenswert, aber die CIA bekam jeden Monat Tausende E-Mails von irgendwelchen Spinnern, wenngleich sie selten an sie persönlich adressiert waren. Die zweite Nachricht machte sie dann aber wirklich nachdenklich. Selbst in den Medien war Rapps Knieverletzung nur am Rande erwähnt worden, und dass sich der Killer in dem Wald gegenüber dem Haus verborgen hatte, war überhaupt nicht in die Öffentlichkeit gelangt. Die Medien gingen nach wie vor davon aus, dass es sich um einen Unfall handelte.
Die dritte Nachricht empfing Irene Kennedy auf dem Weg nach Camp David. Ein Anruf in Langley bestätigte ihr, dass Erich Abel tatsächlich für die Stasi gearbeitet hatte. Die mutmaßliche Verbindung nach Saudi-Arabien passte zu der Warnung, die sie von den Jordaniern bekommen hatte. Kennedy rief ihren Director of Intelligence an und gab ihm die Anweisung, mehr Material über Abel zu sammeln. Sie wollte alles wissen, was die Agency über den Mann besaß, und sie erwartete, auch wenn heute Sonntag war, ein Briefing, sobald sie aus Camp David zurück war.
Bei dem Briefing, das am Sonntagnachmittag um 16:15 Uhr in ihrem Büro stattfand, erfuhr sie von Marcus Dumond, dem Computergenie des CTC, dass die Bemühungen, den geheimnisvollen E-Mail-Schreiber aufzuspüren, leider nicht zum Erfolg geführt hatten. Irene Kennedy hatte etwas Ähnliches erwartet. Man zeigte ihr ein sechzehn Jahre altes Foto von Abel und berichtete ihr Fakten, die, so wie das Bild, mindestens fünfzehn Jahre alt waren. Sie erfuhr, dass der Experte der Agency für Ostdeutschland und die Stasi seit
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