Der Feind
jetzt wieder seine Stimme im Ohr. Er sagte, dass die Frau schwanger sei. Die Frau übergab sich gerade. Er erinnerte sich noch daran, dass er sich gewünscht hatte, die Augen des Mannes hinter der Sonnenbrille sehen zu können. Er hatte den beiden ein paar Fragen gestellt, und nur der Mann hatte ihm geantwortet, bis sich die Frau schließlich aufrichtete und auch etwas sagte. Was sie sagte, war irgendwie ungewöhnlich. Rapp versuchte sich zu erinnern, was es war, und dann fiel es ihm wieder ein. Es war nicht, was sie sagte, sondern wie sie es sagte. Die Frau hatte einen französischen Akzent.
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ZIHUATANEJO, MEXIKO
Louie küsste Claudia auf die Stirn und zog seinen Arm langsam unter ihrem Nacken hervor. Sie drehte sich auf die andere Seite. Vorsichtig schlug er die Decke zurück und schlüpfte aus dem Bett. Er ging auf die Toilette und beschloss dann, draußen auf dem Balkon einen Blick auf das Meer zu werfen. Die Sonne würde gleich aufgehen. Der Himmel über ihm war schon grau, während er im Westen noch schwarz war.
Louie war froh, dass er noch zur Besinnung gekommen war und seinen Vorsatz, den Auftrag zu vollenden, aufgegeben hatte. Es wäre äußerst dumm von ihm gewesen, Claudia aufzugeben, nach allem, was sie miteinander durchgemacht hatten. Gerade noch rechtzeitig war ihm klar geworden, dass es sein Ego war, was ihn dazu getrieben hatte, den Job zu Ende zu bringen. Er war verblendet gewesen von dem Wunsch, eines Tages als der Mann bekannt zu werden, der den großen Mitch Rapp besiegt hatte; außerdem war er es seit jeher gewohnt, alles, was er einmal begonnen hatte, auch zu vollenden. Als er gerade den Zoll am Flughafen von Houston passiert hatte, meldete sich der Profi in ihm zu Wort. Er hatte noch Ausweispapiere, eine Kreditkarte, nicht ganz 8000 Dollar in bar, aber keine Waffe. Die Chancen, Rapp zu erwischen, nachdem er nun gewarnt war, standen nicht besonders gut. Die Chancen, dass er den Mann töten und das Land verlassen konnte, ohne eine Spur zu hinterlassen, waren geradezu verschwindend gering.
Es war jedoch die Erinnerung an sein zufälliges Zusammentreffen mit Rapp, was ihn schließlich zur Vernunft brachte. Louie hatte sein ganzes bisheriges Erwachsenenleben im Kreise von Soldaten verbracht, von Männern, die dazu ausgebildet waren, zu kämpfen. Er hatte ganz unterschiedliche Typen von Soldaten gesehen. Manche waren von einer überwältigenden physischen Erscheinung, aber strohdumm. Louie hatte solche Männer quasi als Packesel benutzt. Er ließ sie schwere Maschinengewehre oder Mörser tragen. Andere wieder waren klein und drahtig, hatten aber ausgezeichnete Instinkte oder organisatorische Fähigkeiten. Solche Männer wurden, wenn sie genug Ausdauer besaßen, zu Scharfschützen oder Spähern ausgebildet. Muskeln konnte man stählen, und gewisse grundlegende Fertigkeiten konnte man selbst dem dümmsten Kerl einpauken, aber Instinkt war etwas, das sich nicht erlernen ließ. Man konnte ihn fördern und entwickeln, aber man wurde entweder damit geboren oder man hatte Pech gehabt.
Wie er so am Flughafen von Houston stand und auf den Flug wartete, der ihn zurück nach Washington bringen sollte, erinnerte sich Louie an die Art und Weise, wie Rapp ihn an jenem Morgen angesehen hatte und wie seine Hand an der Gürteltasche lag, in der sich zweifellos eine Pistole befand. Etwas später hatten sie durch die Telefongespräche seiner Frau erfahren, dass er sich an jenem Morgen am Knie verletzt hatte. Seine Frau hatte zu einer Freundin gesagt, dass sie ihren Mann noch nie mit solchen Schmerzen gesehen hätte. Damals hatte Louie nur daran gedacht, wie er Rapps Missgeschick für seine Zwecke ausnützen konnte. Es war ihm gar nicht bewusst geworden, dass Rapps Instinkt ihm trotz seiner Schmerzen ganz offensichtlich gesagt hatte, dass irgendetwas nicht stimmte. Wie bei einem gefährlichen Raubtier waren Rapps Sinne jederzeit geschärft und hellwach.
Als der Abflug seiner Maschine näher rückte, passierte es Louie zum ersten Mal, seit er mit einundzwanzig Jahren beinahe beim Tauchen ertrunken wäre, dass er Angst zu verspüren begann. Nach jenem Vorfall hatte er einige Zeit schrecklich gelitten, wenn er ans Meer musste, und wenn ihm seine Kameraden bei den Fallschirmjägern nicht geholfen hätten, wäre er wohl ausgestiegen. Das Einzige, was noch schlimmer war als seine Angst vor dem Wasser, war die Angst, seine Kameraden im Stich zu lassen oder zu enttäuschen. Aber wie er jetzt ganz allein unter lauter
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