Der Feind
lachte laut. »Also, das stimmt jetzt aber nicht, Mitch.« Er trat näher, blickte sich kurz um und sagte dann: »Gestern Nacht hättest du mich sehen sollen. Ich war mit diesem Mädchen beisammen, das ich im Club kennengelernt habe. Ich war wie ein Rockstar. Ich wundere mich selbst, dass ich überhaupt noch gehen kann; sie liegt jedenfalls im Streckverband.« Er blickte erneut kurz zum Büro der Direktorin hinüber und beugte sich dann zu Rapp vor. »Das muss ich dir erzählen.«
Rapp hob die Hand wie ein Verkehrspolizist, um zu verhindern, dass Vince ihm seine Geschichte aufs Ohr drückte. Rasch ging er zu Irene Kennedys Büro weiter und klopfte an die Tür.
»He, treffen wir uns heute Nachmittag zum Schießen?«, rief ihm Delgado nach. Er war ein ehemaliger U.S. Marine und ein phänomenaler Schütze, wodurch er und Rapp sich näher kennengelernt hatten.
»Ja«, antwortete Rapp. »Ich bin um zwei dort.«
Rapp trat in Irene Kennedys Büro ein und sah sie an ihrem Schreibtisch sitzen und aufmerksam in einer roten Akte lesen. »Morgen«, sagte er.
»Guten Morgen«, gab sie zurück, ohne den Blick von dem streng geheimen Dokument zu wenden.
»Wie geht’s Tommy?« Rapp sprach von Irenes acht Jahre altem Sohn.
»Er hat viel zu tun, aber er vermisst dich. Erst gestern Abend hat er wieder nach dir gefragt.«
»Hat er am Samstag ein Spiel?« Tommy war seit einem Jahr in der Tackle-Footballmannschaft.
»Ja, um elf.«
»Ich komme hin.«
»Gut«, sagte sie und nahm ihre Lesebrille ab. »Bring Anna mit. Er gibt gern mit ihr an.«
»Oh … kommt er schon in das Alter?«
»Ich glaube, er hat sich verändert, seit er sie letzten Sommer im Badeanzug gesehen hat.«
»Ich glaube, ich bin seit damals auch nicht mehr derselbe.«
Sie schob ihren Sessel vom Schreibtisch zurück. »Er verändert sich wirklich. Er ist jetzt auch schon sehr markenbewusst. Seine Frisur muss genauso sein, wie er es sich vorstellt … und er zieht kein Hemd mehr an, das nicht wirklich cool ist. Und das Schlimmste ist – er ist ziemlich frech geworden.«
»Bist du schon mal auf den Gedanken gekommen, dass das auch an deinem Management-Stil liegen könnte?«, fragte er.
»Wirklich sehr komisch.«
Rapp zuckte die Achseln. »Alle Jungs machen solche Phasen durch.«
»Sieht so aus. Was ist das übrigens bei dir gerade für eine Phase?« Irene Kennedy sah Rapp an und dachte sich, nicht zum ersten Mal, wie nett es wäre, einen Mann zu Hause zu haben, der einen bei allem unterstützte. Nicht Rapp natürlich. Sie beide waren mehr wie Bruder und Schwester. Aber es war nicht zu übersehen, wie sehr sich Tommy zu ihm hingezogen fühlte, oder wie er auf ihn hörte, wenn Mitch ihn einmal zurechtwies. Ihre Aussichten waren jedoch nicht besonders gut. Nachdem sie mindestens sechzig Stunden die Woche arbeitete, blieb ihr nicht viel Zeit, um mit Männern auszugehen, und die Tatsache, dass sie Direktorin der CIA war, schreckte die Männer auch ein bisschen ab.
»Jetzt bist du es, die komisch ist«, erwiderte Rapp.
Irene nickte. Sie trug einen eleganten, aber konservativen braunen Hosenanzug. »Was hast du auf dem Herzen?«, fragte sie und schlug die Beine übereinander.
Rapp ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Du musst mich davon abbringen, dass ich mich aus dem Fenster stürze.«
»O nein … worum geht’s denn diesmal?«
»Ross.«
Irene Kennedy schloss die Akte, die sie vor sich liegen hatte. Konflikte zu lösen gehörte zu ihrem Job, vor allem nach dem elften September. Es war ihr bewusst, dass im Moment gerade hinter den Kulissen um Macht gerungen wurde und dass sie sehr wachsam sein musste. Sie hoffte sehr auf eine reibungslose Zusammenarbeit mit dem neuen Direktor der National Intelligence. Ein gewisses Potenzial für mögliche Spannungen zwischen ihr und Ross sah sie jedoch in der rücksichtslosen Art, mit der Mitch Rapp bisweilen zu Werke ging. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er schon lange genug in seinem Amt ist, damit ihr euch schon in die Quere gekommen seid.«
»Also, da irrst du dich.«
»Was hat er denn getan?«
»Zuerst einmal hat einer seiner Leute im Pentagon angerufen und Scott Colemans Personalakte verlangt.«
»Und?«
»Das Pentagon hat ihm die entschärfte Version geschickt, aber damit war Ross nicht zufrieden. Er oder einer seiner Stellvertreter hat noch einmal angerufen und versucht, Druck auf irgendeinen Captain auszuüben, um die komplette Version zu bekommen. Es geht Ross vor allem um eventuelle Aufträge,
Weitere Kostenlose Bücher