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Der feine Unterschied

Titel: Der feine Unterschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philpp Lahm
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ist.
    Wir spielen auswärts gegen Kroatien. Das Spiel findet in Split statt. Wir wissen nicht viel über den Gegner, außer über die Spieler, die wir aus der Bundesliga kennen. Es will aber auch niemand über den Gegner Bescheid wissen, und es gibt auch keine Besprechung, in der eine Taktik festgelegt würde. Die einzige Besprechung, an die ich mich erinnere, ist die, in der Rudi Völler die Mannschaftsaufstellung bekannt gibt. Ich stehe als linker Verteidiger in der Startelf.
    Hammer. Erstes Spiel, und gleich in der Startaufstellung.
    Wir gewinnen 2:1, ich spiele eine anständige Partie, nach dem Spiel kommt der Bundestrainer zu mir, legt den Arm um meine Schulter und sagt: »Klasse, Philipp.«
    Ich sage, was ich in diesen Tagen immer sage: »Danke, Trainer.«
    Auch beim 3:0 im Heimspiel gegen Belgien stehe ich in der Startaufstellung, und im Auswärtsspiel gegen Rumänien erziele ich mein erstes Länderspieltor, allerdings unter prekären Umständen: die Rumänen fuhren zu diesem Zeitpunkt bereits 5:0. Mein Tor ist also das, was oft als »Ehrentreffer« bezeichnet wird. Aber das Tor, das ich drei Minuten vor Schluss erziele, macht unsere Blamage kein bisschen besser.
    Wir zeigen gar nichts in diesem Spiel, und die Rumänen zeigen alles. Wir haben verletzungsbedingte Ausfälle in der Innenverteidigung, die sich verheerend auswirken. Aber der Hauptgrund für das Debakel ist eine psychische Eigenart, die jeder großen Fußballnation in Freundschaftsspielen Probleme bereitet. Jeder Spieler hat im Hinterkopf, dass es in dieser Begegnung nicht um alles geht, und selbst wenn er entschlossen ist, trotzdem Vollgas zu geben, bleibt eine winzige Reserviertheit in jedem Zweikampf, in jedem Versuch einer Balleroberung, und das hat unter dem Strich fatale Auswirkungen.
    Denn wenn unsere Mannschaft nicht imstande oder bereit ist, hundert Prozent zu geben, wenn sie mit 90 bis 9 5 Prozent ihres Potenzials auf den Platz läuft, ist sie nicht mehr gut genug, um gegen engagierte Mannschaften, die vielleicht eine Spur weniger Qualität aufbieten können, zu bestehen. So gut sind wir nicht. So gut waren wir noch nie.
    90 Prozent reichen vielleicht gegen San Marino, wo der beste Spieler irgendwo in der dritten Liga kickt, aber gegen Profis, die in guten Ligen ihr Geld verdienen und voll motiviert für ihr Land antreten, können wir auf die fehlenden zehn Prozent nicht verzichten. Oder es gibt eine Klatsche wie in Bukarest. Da steht es schon zur Pause 4:0, und Oliver Kahn lässt sich entnervt auswechseln.
    Die »Bild«-Zeitung macht uns zu den »Würsten aus Bukarest«. Na bravo. Drittes Länderspiel und schon das Gespött der Nation. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, den Blicken der Menschen daheim in Stuttgart nach der öffentlichen Demütigung zu begegnen. Ich kann nicht unterscheiden, ob sie mich anschauen, weil sie mich als Fußballprofi wiedererkennen, oder sehen sie in mir die Wurst aus der »Bild«? Mein Aufstieg ist abenteuerlich schnell gegangen, aber jetzt lerne ich gerade erste Schattenseiten kennen. Das Spiel ist nicht aus, wenn es in Bukarest abgepfiffen wird. Die Nachspielzeit geht immer weiter, und du bleibst ein Hauptdarsteller.
    Nach Siegen gegen Malta und die Schweiz verlieren wir zu Hause gegen Ungarn 0:2. Ungarn wird von einem alten Bekannten gecoacht, von Lothar Matthäus, der in diesem Spiel den bislang größten Erfolg seiner Trainerkarriere feiert. Für uns ist das Spiel der letzte echte Test vor der Europameisterschaft in Portugal. Ich bin zwar erst seit vier Monaten dabei, aber es zeichnet sich ab, dass ich als 20-Jähriger mein erstes großes Turnier spielen darf. Die Position als linker Verteidiger ist dafür eine gute Eintrittskarte: in der Bundesliga drängt sich kein anderer Kandidat groß auf. Das ist vielleicht kein Qualitätsausweis für die Bundesliga - für mich ist es ein großes Glück, denn so komme ich zu einer Karriere in der Nationalmannschaft, von der ich bis dahin nicht einmal zu träumen gewagt habe.
    Noch immer sind die Treffen mit der Nationalelf die lockersten Tage meines Profidaseins. Die Entspanntheit, über die ich vor meinem ersten Spiel gegen Kroatien noch gestaunt habe, ist die Regel. Wir trainieren nichts Spezielles, außer vielleicht Flanken von der Seite in die Mitte, wo dann irgendwer unbedrängt den Ball annimmt und aufs Tor haut. Lustig, ja, und völlig unsystematisch. Die Torhüter regen sich permanent darüber auf, wie der Ball links und rechts von ihnen einschlägt.
    Pro Tag

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