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Der feine Unterschied

Titel: Der feine Unterschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philpp Lahm
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unvergessen, als der eine oder andere sich damit abmühen muss, auch nur einen einzigen Klimmzug zustande zu bringen.
    Klinsmann und sein Team sammeln wie wild Daten, sie untermauern jede Übung mit sportwissenschaftlichen Fakten und Recherchen der teameigenen Analyseabteilung. Kommunikation wird ganz groß geschrieben. Klinsmann selbst spricht permanent mit allen Spielern. Jedes Gespräch zielt auf Motivation. Motivation ist Klinsmanns großes Thema. Er selbst versprüht tonnenweise Leidenschaft, und er versucht, diese Leidenschaft an uns weiterzugeben und sie zu kanalisieren. Schnelles Spiel, schönes Spiel, offensives Spiel, erfolgreiches Spiel. Das ist das neue Mantra der Deutschen Nationalmannschaft.
    Jogi Löw erweist sich schon bei den ersten Trainingseinheiten als gewiefter Taktiker. Es ist interessant, was er über jede einzelne Position zu sagen weiß, vor allem für einen Spieler, dem bisher kein Trainer Anregungen gegeben hat, wie er die Position des linken Verteidigers vielleicht interpretieren könnte. Wir schauen uns Spielszenen auf Video an. Vor allem die Bilder eigener Aktionen und Fehler finde ich enorm aufschlussreich und wertvoll.
    Wir Defensivspieler trainieren vor allem mit Löw. Klins-mann, der selbst Stürmer war, kümmert sich vor allem um die Offensive. Auf dem Programm stehen Spielzüge, die mit dem Torabstoß beginnen und möglichst rasch vor das gegnerische Tor führen.
    Aber auch das Gefühl jedes Einzelnen für die Mannschaft wird geschärft. Zum Beispiel trainieren wir das Spiel elf gegen null. Der Gegner besteht nur aus mannsgroßen, farbigen Schablonen, die auf dem Feld aufgestellt werden. Die Spieler müssen dann durch die Formationen des Gegners durchpassen, das Mittelfeld überwinden, nach außen spielen, flanken, ein Tor erzielen.
    Auch defensiv wird diese Methode angewandt. Sie soll der Mannschaft vor allem vor Augen fuhren, wie jede Position mit jeder anderen zusammenhängt. Die Mannschaft stellt sich in Position, der Trainer ruft: »Der Ball ist bei dem gelben Mann«, und die Mannschaft muss sich entsprechend verschieben, muss sich so positionieren, dass der gelbe Mann keinen Anspielpartner hat - bis zum nächsten Kommando.
    Auch das Spiel, mit dem jedes Training beendet wird, wird meistens noch mit Zusatzaufgaben versehen — maximal zwei Ballkontakte, jeder zweite Pass muss nach vorne gespielt werden, oder Ähnliches. Plötzlich ist das Training mit der Nationalmannschaft enorm anspruchsvoll, vielseitig und unterhaltsam.
    Oliver Bierhoff, ein BWL-Absolvent, der selbst Torschützenkönig in der Serie A gewesen war, schafft mit genauem Gefühl für die Bedürfnisse von Profis ein Umfeld in der Nationalmannschaft, das nach den dürren Verhältnissen davor wie ein modernes Schlaraffenland wirkt. Plötzlich ist dafür gesorgt, dass alle Nationalspieler die Möglichkeit haben, etwas anderes zu tun, als nach dem Training auf ihr Zimmer zu verschwinden und Computer zu spielen.
    Außerdem formuliert der Trainerstab schon beim ersten Treffen mit den Spielern sein ehrgeiziges Ziel: »Wir wollen«, sagt Klinsmann in seinem im Kern amerikanisch gefärbten Schwäbisch, »bei der WM im eigenen Land Weltmeister werden.«
    Vielleicht glauben zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Nationalspieler daran, dass es mit diesem Ziel tatsächlich etwas auf sich haben könnte. Aber jeder hört die Botschaft, die Jürgen Klinsmann in die Welt setzen möchte: Hier werden keine kleinen Brötchen gebacken.
    Da wir als Gastgeber der WM automatisch spielberechtigt sind, müssen wir keine Qualifikationsspiele austragen. Stattdessen testen wir viel, Klinsmann will alle möglichen Kandidaten für seine WM-Mannschaft ausprobieren und der Mannschaft um die Leitwölfe Ballack, Kahn, Lehmann, Frings, Schneider in den kommenden zwei Jahren einen neuen Stamm verpassen.
    Wir gewinnen gegen Österreich, spielen unentschieden ge-gen Brasilien, gewinnen gegen den Iran und gehen kurz vor der Winterpause auf eine Asientournee. Ich erinnere mich an Südkorea, wo wir bei knapp über null Grad 1:3 verlieren, und an das nächste Spiel in Thailand, das wir zwei Tage später bei 35 Grad im Schatten 5:1 gewinnen.
    Als wir von Bangkok zurück nach Frankfurt fliegen, um zu Hause Weihnachten zu feiern, denke ich mir, dass ich gar kein Geschenk haben will, weil das Jahr 2004 für mich schon ein einziges Geschenk war. Da kann ich noch nicht ahnen, dass ich
    2005 kein einziges Länderspiel bestreiten werde.

    

4.

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