Der ferne Spiegel
dem englischen König Philipp der Kühne genannt. Er verdiente sich den Beinamen, als er im Verlauf des Essens aufsprang, dem englischen Butler ins Gesicht schlug und ihn anschrie: »Wo hast du gelernt, den König von England vor dem König von Frankreich zu bedienen, wenn sie an einem Tisch sitzen?« »Wahrlich, Cousin«, sagte König Eduard, »Ihr seid Philipp der Kühne.«
Am 24. Oktober 1360 erreichte endlich die erste Rate von 400000 Écus die Engländer in Calais. Sie war hauptsächlich im nördlichen Frankreich zusammengetragen worden. Das Gold der Visconti war dagegen in so komplizierten Geschäften angelegt, daß es wahrscheinlich nicht dazu beigetragen hat. Obwohl weniger als ursprünglich vereinbart, wurden die 400000 akzeptiert, und der Friedensvertrag wurde mit geringfügigen Änderungen formell als der Vertrag von Calais ratifiziert. Das Dokument trug auch die Unterschrift von Enguerrand de Coucy als einer der wichtigsten Geiseln. Gemeinsam schworen die beiden Könige, den Frieden nach
den ausgehandelten Bedingungen einzuhalten, und Johann kehrte nach vierjähriger Gefangenschaft in sein verwüstetes Land zurück.
Vier Tage nach seiner Befreiung segelten die Geiseln unter der Obhut Eduards und seiner Söhne nach England. Einige von ihnen sollten zehn Jahre dort bleiben, andere nur zwei oder drei, einige auch in der Gefangenschaft sterben. Enguerrands Schicksal war einzigartig – er wurde der Schwiegersohn des Königs von England. [Ref 154]
Die geschichtliche Unsterblichkeit segelte mit ihm über den Kanal. Ein junger Sekretär bürgerlicher Herkunft aus Valenciennes in Hainault reiste nach England, um Königin Philippa, die aus seiner Heimat stammte, eine Chronik vorzulegen, die er von der Schlacht bei Poitiers geschrieben hatte. Damit wollte er sie als seine Schutzpatronin gewinnen. Sein Name war Jean Froissart, damals 22 oder 23 Jahre alt. Seine Aufzeichnungen gefielen der Königin, und mit ihrer Unterstützung begann er, das Material für eine Chronik zu sammeln, die ihn zum Herodot seines Zeitalters machen sollte. Er war ein Bewunderer des Rittertums und schrieb in der Absicht, »die ehrenvollen und edlen Abenteuer und Waffentaten der Kriege zwischen England und Frankreich gewissenhaft aufzuzeichnen und dem Gedächtnis der Nachwelt zu erhalten«. Innerhalb dieser Grenzen gibt es keine umfassendere und lebendigere Chronik jener Zeit. Für das »Gedächtnis der Nachwelt« reiten die Edlen der Zeit durch diese Chronik, glänzend, raffgierig, tapfer und grausam.
Der Konvoi, der die Geiseln nach England hinüberbrachte, trug eine ungewöhnliche Konzentration der Hauptdarsteller jener Zeit. Unter ihnen war ein weiterer Beobachter, der Unsterblichkeit schenken konnte. Die ganze Menschheit war das Thema Geoffrey Chaucers und die Gesellschaft des 14. Jahrhunderts sein Schauplatz. Im Alter von zwanzig Jahren – er war im selben Jahr wie Enguerrand geboren – hatte er die englische Armee im Gefolge von Lionel, Herzog von Clarence, dem zweitältesten Sohn des Königs, begleitet. Während einer Versorgungsexpedition vor Reims war er von den Franzosen gefangengenommen und von König Eduard für 16 Pfund freigekauft worden, was im Vergleich zu den 2 Pfund, die für die Auslösung eines Bogenschützen zu zahlen waren, noch ein verhältnismäßig guter Preis war. Es gibt zwar keine Belege für
Chaucers Anwesenheit auf dem Schiff, aber da der Herzog von Clarence mit den Geiseln segelte, ist anzunehmen, daß Chaucer als Mann seines Gefolges ihn begleitete.
Einige Zeit später sollte Enguerrand Chaucer treffen und kennenlernen und auch zum Freund und Schirmherren Froissarts werden, obwohl nichts darauf hinweist, daß sich die drei jungen Männer während der Schiffsreise begegneten. Aber einige Zeit später, während er eifrig nach Stoff für seine Chronik Ausschau hielt, fiel Froissart sein späterer Patron auf. Bei einem Fest am englischen Hof beobachtete er, »daß der junge Lord de Coucy mit seinen Liedern und Tänzen glänzte, wann immer er an der Reihe war. Er stand sowohl bei den Franzosen als auch bei den Engländern in hoher Gunst, denn alles, was er tat, tat er gut und mit Eleganz, und alle priesen ihn um die freundliche Art, mit der er jedermann entgegentrat. « In den Talenten, die ein eleganter Edelmann an den Tag legen sollte, war Enguerrand offensichtlich ein vollkommener Darsteller, der Aufmerksamkeit auf sich zog. [Ref 155]
Von Enguerrand de Coucy gibt es kein Porträt. Das ist kaum
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