Der ferne Spiegel
verwunderlich, da die Kunst der Porträtmalerei noch nicht verbreitet war, nur Mitglieder königlicher Familien wurden gemalt. Aber es gibt zwei Hinweise auf das Aussehen von Enguerrand: Der eine deutet darauf hin, daß er groß und kräftig war, denn so wird seine Gestalt in einer Chronik seiner letzten Schlacht beschrieben; der andere legt nahe, daß er dunkel und im Alter vielleicht auch düster war, denn so erscheint er auf einem Porträt, das mehr als zweihundert Jahre nach seinem Tod gemalt wurde. Da das Porträt von einem Zölestinerkloster, das Enguerrand gegründet hatte, in Auftrag gegeben worden war, mögen dem Künstler einige überlieferte Andeutungen über sein Aussehen vorgelegt worden sein, aber andererseits kann das Gesicht in dem Porträt durchaus auch bloße Phantasie sein.
Angeführt von den vier »Lilien« Anjou, Berry, Orléans und Bourbon, brachten die Geiseln in ihren bunten, seidenen Gewändern kaum weniger Glanz an den Hof von England als die Gefangenen von Poitiers, an deren Stelle sie traten. Sie mußten in England auf eigene Kosten leben – sicherlich nicht billig wie im Falle
des Herzogs von Orléans, der sechzehn Diener und ein Gefolge von über sechzig Köpfen mit sich führte. Ritterlich behandelt und mit Festen und Banketten gut unterhalten, konnten sich die Geiseln in England frei bewegen, sie jagten, tanzten und flirteten. Die französische und englische Ritterschaft waren stolz auf ihren höflichen Umgang miteinander – was ihrer Gier nach Lösegeldern keinen Abbruch tat –, ganz im Gegensatz zu den deutschen Rittern, die – nach Froissarts empörter Darstellung – ihre Gefangenen »wie Diebe in Eisen und Ketten legten, um ein höheres Lösegeld zu erpressen«.
Coucy wird sich in England kaum als Fremder gefühlt haben. Seine Familie besaß dort Ländereien, die sie von seiner Urgroßmutter Catherine de Baliol geerbt hatte. Sie waren allerdings während des Krieges von König Eduard beschlagnahmt worden. [Ref 156]
Die Engländer und Franzosen wie die Engländer und Amerikaner in späteren Tagen hatten eine gemeinsame Kultur und unter den Adligen auch eine gemeinsame Sprache – ein Erbe der normannischen Eroberung. Etwa zu der Zeit, als die Geiseln nach England kamen, begann der Gebrauch des Französischen in der englischen Oberschicht der Landessprache der Gemeinen zu weichen. Vor dem Schwarzen Tod war Französisch die Sprache des Hofes, des Parlaments und der Gerichte gewesen. König Eduard selbst sprach wahrscheinlich nicht fließend Englisch. Französisch war sogar die Unterrichtssprache in den Schulen, sehr zur Empörung des englischen Bürgertums, dessen Kinder nach einer Klageschrift von 1340 »gezwungen werden, ihre eigene Sprache aufzugeben, ein Vorgang, der in keinem anderen Land bekannt ist«. Als viele der geistlichen Lehrer in den Schulen der Pest zum Opfer fielen, begannen die Kinder in den Grundschulen, ihre Lektionen auf englisch zu lernen – was, wie John von Trevisa schrieb, Vor- und Nachteile hatte: Sie lernten schneller als vorher, meinte er, aber da sie nun kein Französisch mehr könnten, wären sie im Nachteil, »wenn sie die See überquerten und in fremden Ländern reisten«.
Aufgrund seiner Insellage und der früheren Entwicklung der Macht des Parlaments war England in seiner politischen Struktur weitaus homogener und gefestigter als Frankreich. Das englische Nationalgefühl wurde durch ein wachsendes Ressentiment gegen
den Papst noch intensiviert. Die Gefangennahme zweier Könige, Johanns von Frankreich und Davids von Schottland, die Triumphe auf den Schlachtfeldern und die territorialen Gewinne auf dem Festland gaben den Engländern das Gefühl, nach Wilhelm dem Eroberer endlich den Spieß umgedreht zu haben. Aber unter dem Stolz, dem Ruhm und dem Profit durch die Lösegelder begannen auch an England die Kriegsfolgen zu nagen.
Die Plünderer Frankreichs brachten ihre räuberischen Gewohnheiten nach Hause mit. Viele Soldaten der Kompanien und des Invasionsheers waren von vornherein kriminelle Elemente gewesen, die nur, weil ihnen die Begnadigung versprochen worden war, gedient hatten. Andere wurden erst in Frankreich zu Gesetzlosen und Gewalttätern. Nach England zurückgekehrt, bildeten sie auch hier bald neue Kompanien nach dem Muster derer, die sie in Frankreich zurückgelassen hatten. »Kriegerisch ausgerüstet« raubten sie Reisende aus, nahmen Gefangene, verlangten Lösegelder von Dörfern, mordeten und verstümmelten und verbreiteten
Weitere Kostenlose Bücher