Der ferne Spiegel
Schrecken. Ein Erlaß von 1362 gebot den Gerichten, Informationen zu sammeln über »all jene, die Räuber und Plünderer im Ausland gewesen sind und die nun zurückgekommen sind und nicht mehr wie früher arbeiten wollen«. [Ref 157]
Im Frühjahr 1361, zwölf Jahre nach dem Verschwinden des Schwarzen Todes, tauchten die gefürchteten dunklen Schwellungen in Frankreich und England wieder auf und brachten »eine große Ernte des schnellen Todes«. Ein frühes Opfer war Johanns Frau, die Königin von Frankreich, die im September 1360 noch vor Ausbruch der neuen Epidemie starb. Die Pestis Secunda , manchmal auch »das Große Sterben der Kinder« genannt, forderte einen besonders hohen Zoll unter den Jungen, die den ersten Ausbruch nicht erlebt hatten und daher nicht immun waren. Der Tod der Jungen in der zweiten Pestwelle hielt die Erholung der Bevölkerungsstruktur auf, gab dem Zeitalter ein unheimliches Gefühl des Verfalls. In ihrem verzweifelten Bedürfnis, sich fortzupflanzen, so berichtet das Polychronicon. »nahmen die Frauen von England jeden erreichbaren Ehemann, Fremde ebenso wie Kranke und Schwachsinnige, und vereinigten sich ohne Scham auch mit solchen, die unter ihnen standen«.
Die Todesrate war nicht ganz so hoch wie beim ersten Auftreten der Seuche. In Paris starben siebzig bis achtzig Menschen am Tag. In Argenteuil dagegen, nur wenige Meilen entfernt am Zusammenfluß von Oise und Seine, wurde die Zahl der Haushalte von 1700 auf 50 reduziert. Flandern und die Picardie wurden schwer getroffen, Avignon litt wie nie zuvor. Durch seine verstopften unhygienischen Viertel raste die Seuche wie ein Feuer durch Stroh. Zwischen März und Juli 1360 starben angeblich »17 000«.
Obwohl weniger tödlich, wurde die zweite Pest als eine noch größere Katastrophe empfunden. Die bloße Tatsache der Rückkehr der Seuche ließ die Menschen von nun an in der ständigen Furcht vor neuen Ausbrüchen leben. Die Briganten und die Pest waren der Fluch der Epoche, zu jeder Zeit konnte sich das Phantom, »das sich wie schwarzer Rauch in unserer Mitte erhebt«, oder die gepanzerten Reiter wieder zeigen, mit Tod und Ruin im Gefolge. Eine Atmosphäre drohenden Unheils lastete auf der zweiten Jahrhunderthälfte, ein Gefühl, das sich in Prophezeiungen des Untergangs und der Apokalypse ausdrückte.
Das berühmteste dieser Schreckensgemälde war die »Tribulation« von Jean de la Roquetaillade, [Ref 158] einem Franziskanermönch, der in Avignon im Kerker saß, weil er gegen die korrupten Prälaten und Fürsten gepredigt hatte. Wie Jean de Venette stand er auf der Seite der Unterdrückten und wandte sich gegen die Mächtigen der Welt und der Kirche. 1356, im Jahr der Schlacht von Poitiers, prophezeite er von seiner Zelle aus, daß Frankreich fallen werde und die Christenheit von großen Plagen heimgesucht werden würde. Tyrannei und Brigantentum würden herrschen, die Geringen gegen die Großen aufstehen, die »von den Gemeinen grausam erschlagen« werden würden, viele Frauen würden »entehrt und verwitwet«, und »ihr Hochmut und ihr Luxus werden welken«; Sarazenen und Tataren würden die Königreiche der lateinischen Welt überfallen; Herrscher und Völker, voller Zorn über den Luxus und den Stolz der Geistlichkeit, würden sich vereinigen, um der Kirche ihr Eigentum zu nehmen. Edle und Fürsten würden niedergeworfen werden und unglaubliche Qualen erleiden; der Antichrist würde erscheinen und falsche Lehren verbreiten; Stürme, Fluten
und Seuchen würden fast alle Menschen, alle Sünder, hinwegfegen und den Weg bereiten für die Erneuerung der Welt.
Dies war ein realer Ausdruck des Empfindens jener Zeit. Wie die meisten düsteren Propheten des Mittelalters aber war für Roquetaillade das Debakel nur ein Vorspiel zu einer besseren Welt. In seiner Vision wurde die Kirche durch ihre Leiden, durch Reue und Armut geläutert, schließlich wiederhergestellt, und ein großer Reformer wurde Papst. Der König von Frankreich wurde gegen alle Tradition zum Heiligen Römischen Kaiser gewählt und regierte als der heiligste Monarch aller Zeiten. Zusammen mit dem Papst vertrieb er die Sarazenen und Tataren aus Europa, bekehrte alle Mohammedaner, Juden und andere Heiden, eroberte die Welt im Namen der einen Kirche und begründete vor seinem Tod eine tausendjährige Friedensherrschaft bis zum Tag des Jüngsten Gerichts und dem Ende der Welt. [Ref 159]
Die Geiseln wurden von der Seuche nicht verschont. Adlige wie der Graf Guy von St.
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