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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Weinend klagten die Einwohner von Cahors, daß der König sie zu Waisen gemacht habe. Enguerrand Ringois von Abbeville, der Befehlshaber des Überfalls auf Winchelsea in England, sprach durch seine Handlungen. Als Bürger einer den Engländern überschriebenen Stadt weigerte er sich unversöhnlich, dem König von England den Treueid zu schwören. Er wurde nach England verschleppt, in einen Kerker geworfen und schließlich auf die Klippen von Dover gestellt, wo man ihm die Wahl ließ, entweder den Eid zu schwören oder unten auf den Felsen im Schaum der Wellen zu sterben. Ringois warf sich in die See. Wie Papst Bonifatius’ Forderung auf Vormachtstellung des Heiligen Stuhls waren die Bedingungen von Brétigny undurchführbar – von der Zeit überholt. Es war zu spät, ganze Provinzen Frankreichs wie einfache Lehen abzutreten; von den Herrschenden unbemerkt, hatten die Einwohner begonnen, sich als französisch zu empfinden. Zwischen dem Vollzug einer historischen Entwicklung und ihrer Anerkennung durch die Herrschenden klafft immer eine Lücke, eine Zeit voller Fallen und Gefahren. [Ref 161]
    Den Unwägbarkeiten einer solchen Situation war das Schicksal der Geiseln ausgeliefert. Als die Lösegeldzahlungen für König Johann ins Stocken gerieten und die Abtretung der Territorien zunehmend Unruhen auslöste, war kein Ende ihres Exils mehr in Sicht. Ihre Situation wurde noch komplizierter, als König Johann
in einer erschreckenden Sinneswandlung freiwillig in die englische Gefangenschaft zurückkehrte. Die Gründe dieses seltsamen Monarchen, für den sein Land soviel geopfert hatte, sind sechshundert Jahre später nicht leicht verständlich; nur die Folge der Ereignisse ist in Umrissen deutlich.
    Als er auf den Thron zurückgelangt war, erwies sich Johanns erster Versuch, in seinem Land Ordnung zu schaffen, als ein Poitiers im kleinen. Um die »Große Kompanie« von Briganten, die Zentralfrankreich überrannte, zu unterdrücken, hatte er einen aus den Reihen der Briganten angeheuert, den »Erzpriester« Arnaut de Cervole, und ihm zur Unterstützung eine kleine königliche Armee von zweihundert Rittern und vierhundert Bogenschützen unter dem Grafen von Tancarville an die Seite gestellt. Dieser tapfere Ritter, dem die Niederlage von Poitiers die Lust zur bedingungslosen Offensive keineswegs genommen hatte, befahl gegen den Rat von Arnaut de Cervole einen Angriff auf Brignais, eine Höhe in der Nähe von Lyon, die von der Kompanie gehalten wurde. Die Briganten setzten eine Lawine von Steinen gegen die königliche Heerschar frei, die die Pferde umriß und die Helme und Rüstungen der Ritter zerschlug, was den Angriff auf ähnliche Art zum Stehen brachte, wie es die englischen Bogenschützen bei Poitiers getan hatten. Zu Fuß aber erwiesen sich die Briganten als überlegen, gewannen die Schlacht und nahmen den Grafen von Tancarville gefangen. Ansonsten nutzten die Räuber den Sieg nur insofern aus, als sie weiter räuberten. Lyon kaufte Artillerie, verstärkte die Mauern und hielt nachts eine starke Wache mit Laternen unter Waffen; das Land um die Stadt litt wie zuvor. [Ref 162]
    Die Reaktion des Königs auf die Niederlage von Brignais war eine Reise nach Avignon, wo er fast ein Jahr bleiben sollte. Mitten in dem militärischen Chaos und allen nur denkbaren Leiden seines Volkes beabsichtigte er, in Avignon den Kreuzzug wiederzubeleben, der zwanzig Jahre früher durch den anglo-französischen Krieg unterbrochen worden war. Obwohl er weder fähig war, sein Land zu schützen, noch sein Lösegeld aufzubringen oder die fünfzig oder sechzig Geiseln auszulösen, die für ihn ins Exil gegangen waren, empfand er es als seine dringlichste Aufgabe, seines Vaters unerfülltes Gelöbnis, das Kreuz aufzunehmen, einzulösen. Froissart
unterstellt ihm das realistische Motiv, durch den Kreuzzug das Brigantentum aus seinem Königreich herausziehen zu wollen, aber er fügt seltsamerweise hinzu, daß Johann »seine Absicht und sein Ziel für sich behielt«.
    Vielleicht empfand Johann tatsächlich den Kreuzzug als angemessene Tätigkeit für den »allerchristlichen König«; vielleicht sah er in ihm eine Möglichkeit, seine Demütigungen vergessen zu machen; vielleicht aber überstiegen auch die Probleme Frankreichs seine Fähigkeiten, so daß er eine Entschuldigung suchte, um ihnen entfliehen zu können.
    Der Kreuzzug war zugleich das höchste Ziel des ernsten und frommen Papstes Innozenz VI., der aus diesem Grunde so hartnäkkig versucht

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