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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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beherrschte auch diese Reise. Erst als er eine Armee gesammelt hatte und von bedeutenden Adligen Italiens begleitet wurde, war es dem Heiligen Vater möglich, die Hauptstadt der Christenheit zu betreten, die sich in einem traurigen Zustand darbot. Ohne die belebende Wirkung des Papsttums, ohne eigenständigen Handel war sie in Armut und chronischer Unordnung versunken; die Bevölkerung war von über 50 000 vor dem Schwarzen Tod auf 20 000 zurückgegangen; klassische Monumente, von Erdbeben zerstört und dem Verfall überlassen, dienten nur noch als Steinbrüche; Vieh wurde in den verlassenen Kirchen gehalten, die Straßen waren voller Unrat. Rom hatte keine Dichter wie Dante oder Petrarca, keine Universität wie Paris oder Bologna, keine blühenden Malerschulen. Seine Mauern beherbergten nur eine bedeutende Heilige, Birgitta von Schweden, die freundlich und sanft mit allen Kreaturen umging, aber eine leidenschaftliche Anklägerin der Korruption der Kirchenhierarchie war. [Ref 208]
    Nicht lange hielt es Urban in Rom. Aufgerieben von einem neuen Aufstand in den päpstlichen Staaten, bedroht durch eine Massierung mailändischer Truppen in der Toskana, niedergeschlagen und desillusioniert, schlich er 1370 nach Avignon zurück. Im verlassenen Rom sagte Birgitta von Schweden seinen baldigen Tod voraus, da er die Mutter der Kirche verraten habe. Innerhalb zweier Monate starb er wie König Johann an einer nicht genannten Krankheit. Vielleicht hieß sie Verzweiflung.
    Die Kardinäle glaubten sicherzugehen, als sie einen Franzosen aus einer großen Freiherrenfamilie, den früheren Kardinal Pierre Roger de Beaufort, zum neuen Papst wählten. Papst Gregor XI. war ein frommer und bescheidener Priester, 41 Jahre alt. Er litt an
einer Krankheit, die ihm »viel Schmerz auferlegte«. Er würde, glaubten die Kardinäle, keinen Hang zu den Gefahren von Rom entwickeln. Gregor XI. war ein Neffe des großen Klemens VI., der ihn noch selbst im Alter von neunzehn Jahren zum Kardinal ernannt hatte. Gregor XI. hatte nichts von der Autorität seines Onkels, seiner Umgebung erschien er blaß und wenig willensstark. Aber die Kardinäle hatten die formende Kraft des höchsten Amtes unterschätzt.
    Sobald er inthronisiert war, beugte sich Gregor wie sein Vorgänger der Notwendigkeit – sowohl in religiöser als auch politischer Hinsicht –, Avignon zu verlassen und das Papsttum in seine Heimat zurückzuverlegen. Gregor war ein zögernder, unentschlossener Mann, und er hätte wahrscheinlich ein ruhiges Leben vorgezogen, aber als oberster Hirte hatte er das Gefühl, eine Mission erfüllen zu müssen. Er konnte indessen nicht nach Italien umziehen, solange die Visconti nicht in ihre Grenzen verwiesen waren. Zu diesem Zweck hatte schon Urban V. eine Päpstliche Liga organisiert, auf die Gregor XI. nun zurückgreifen konnte. Als Bernabò Visconti 1371 weitere Lehen des Heiligen Stuhls besetzte, war Gregor zum Handeln gezwungen. [Ref 209]
    Im gleichen Jahr zog Amadeus von Savoyen, der »grüne Graf«, in den Piëmont, wo sein Land an das Mailands stieß, um eine lokale Fehde mit einem seiner Vasallen zu Ende zu führen. In seiner Begleitung befand sich sein Vetter Enguerrand de Coucy, den er zum Generalleutnant von Piëmont ernannte.
    Coucy überquerte mit etwa tausend Reisigen irgendwann zwischen November und März im Winter des Jahres 1371/72 die schneebedeckten Alpen. Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert waren im Mittelalter die Pässe im Winter nicht geschlossen und wurden von Reisenden mit Hilfe savoyischer Bergführer überschritten. Die Menschen jener Zeit ließen sich von körperlichen Härten nicht so leicht abschrecken wie ihre an Komfort gewöhnten Nachkommen. Die Reisenden trugen Schneebrillen oder Hüte und Kapuzen, die wie Masken das Gesicht bedeckten.
    Von ihrem transalpinen Horst aus kontrollierten die Grafen von Savoyen sehr wirkungsvoll die Pässe. Der »grüne Graf« Amadeus VI. war ein willensstarker, unternehmungslustiger Fürst, dessen
Vater der Bruder von Coucys Großmutter mütterlicherseits gewesen war. Auch Amadeus bediente sich der Kompanien, obwohl er sie verachtete. Für seinen Feldzug gegen den Marquis von Saluzzo im Jahre 1371 engagierte er den gefürchteten, brutalen Anachino Baumgarten mit seiner deutsch-ungarischen Kompanie von sechstausend Reisigen und dreihundert Bogenschützen. Angesichts dieser Bedrohung wandte sich Saluzzo mit der Bitte um Hilfe an Bernabò Visconti, der ihm Verstärkung schickte.
    Auf diese

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