Der ferne Spiegel
Parisern kein Schaden zugefügt werden würde. Als der König in die Stadt einritt, gingen ihm der Vorsteher der Kaufleute, die Magistrate und fünfhundert vornehme Bürger als Repräsentanten der ganzen Bürgerschaft entgegen und baten in der rituellen Form um Gnade. Sie knieten nieder, und der König und seine Ritter, unter ihnen Coucy, flankiert von Reitern mit erhobenen Lanzen, ritten an ihnen vorüber durch die flügellosen Tore in die Stadt. Soldaten wurden sofort an allen Brücken und Plätzen aufgestellt, um Ansammlungen zu verhindern. Häuser, in denen Soldaten einquartiert waren, mußten die Türen ständig offenhalten. Jeder Bürger, der im Besitz einer Waffe war, wurde aufgerufen, sie in einem Sack zum Louvre zu bringen.
Eine Verhaftungswelle begann, die besonders auf die Würdenträger der Bürgerschaft zielte, in denen der König seine eigentlichen Widersacher sah. Jean de Marès und Nicolas de Flament waren unter den dreihundert reichen Bürgern, die festgenommen wurden. Zwei reiche Kaufleute, ein Tuchmacher und ein Goldschmied, wurden auf der Stelle hingerichtet, dreizehn weitere Bürger im Laufe der Woche. Nicolas de Flament, der 1358 verschont worden war, ging nun zum Schafott. Alle Bürger, die während des Aufstands in der Stadtmiliz gedient hatten, wurden einzeln vor den Rat gerufen und zu schweren Bußgeldern verurteilt. Unbehindert
in ihrer Rachsucht erlegte die Regierung des Königs der Stadt immer mehr Strafgelder, Gefängnisstrafen und Hinrichtungen auf. »Sie schlugen drei und vier Köpfe auf einmal ab«, berichtete der Ménagier de Paris, im ganzen wohl etwa hundert, wobei die Hinrichtungen in anderen Städten nicht mitgezählt sind.
Das Siegel auf der Unterwerfung der Stadt war die Wiedereinführung der Verkaufssteuer sowie der Salz- und Weinsteuer – dieselben Steuern, die die Revolte der Maillotins hervorgerufen und die die Pariser das ganze vorhergehende Jahr hindurch verweigert hatten. Eine Woche später wurde vor einer Vollversammlung der herrschenden Klasse von Paris ein Erlaß des Königs verlesen, in dem er die Privilegien und Stadtrechte von Paris aufhob. Die stolzen Rechte der Selbstverwaltung und der verbürgten Freiheiten, in schweren Kämpfen im Hochmittelalter errungen, wurden ausgehöhlt und von einer Zentralregierung aufgesogen. Die Ämter des Vorstehers der Kaufleute und die der Magistraten wurden in Paris abgeschafft, ihre Befugnisse übernahm die Krone. Die größten Zünfte verloren ihre Selbständigkeit und wurden wie in Rouen von nun an Aufsehern des Vorstehers von Paris unterstellt. Die Polizeitruppe, die vormals dem Befehl des Vorstehers der Kaufleute gehorcht hatte, würde aufgelöst, die Verteidigung von Paris lag nun in den Händen der Krone. Versammlungen der confréries (Bruderschaften), potentielle Keimstätten von Unruhen, und alle Volksversammlungen außer dem Kirchenbesuch wurden untersagt. Teilnehmer an unerlaubten Versammlungen waren als »rebellierende, ungehorsame Bürger« zu behandeln und von der Todesstrafe und der Beschlagnahmung des Besitzes bedroht.
Dann folgte der Prozeß gegen Jean de Marès. Er hatte im Unterschied zu anderen Notabeln der Bürgerschaft Paris nicht verlassen, wie der Mönch von St. Denis noch einmal ausdrücklich bemerkte, sondern hatte mehr als ein Jahr lang den Zorn des Volkes zurückgehalten und beschwichtigt und hatte sich bemüht, zwischen dem Hof und der Stadt zu vermitteln. Aber gerade deshalb verfolgten ihn die Herzöge mit ihrem Haß. Eine ganze Reihe von Denunzianten erschien vor dem Gericht und stützte die Anklage, daß er die Rebellen getrieben habe, zu den Waffen zu greifen. Er wurde überführt, zum Tode verurteilt und mit zwölf anderen auf dem Schandkarren
zum Hinrichtungsplatz auf Les Halles gefahren. Noch vom Karren aus rief er dem Volk zu: »Wo sind sie, die mich verurteilen? Laßt sie vortreten und meine Verurteilung rechtfertigen, wenn sie es können.« Das Volk von Paris trauerte um ihn, aber niemand wagte es, für ihn zu sprechen. Der Henker riet ihm, den König um Vergebung zu bitten, damit er für seine Verbrechen begnadigt würde, aber Marès antwortete, daß er nichts getan habe, wofür er um Gnade zu bitten hätte. »Nur Gott allein werde ich um Gnade bitten und ihn demütig anflehen, mir meine Sünden zu vergeben.« Nachdem er den Zuschauern, die alle in Tränen dastanden, Lebewohl gesagt hatte, wandte er sich um und ging in den Tod.
Noch immer nicht zufrieden, rief die Krone eine
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