Der ferne Spiegel
gepflügt haben? Weshalb ihre Seelen zu Gott um Rache schreien. Wehe den Herren, den Räten und allen, die uns so lenken, und wehe allen, die zu ihrer Partei gehören, denn niemand denkt an anderes, als sich die Taschen zu füllen.« [Ref 303]
Die Welle der Aufstände war vorübergegangen und hatte wenig Veränderungen in der Lage der arbeitenden Klasse hinterlassen. Auf der Waage der Geschichte wiegt Beharrung schwerer als Veränderung. Vierhundert Jahre sollten vergehen, bis die Nachkommen der Maillotins die Bastille erstürmten.
KAPITEL 19
Der Zauber Italiens
E in Brückenkopf in Italien – das war für die Franzosen ein ähnliches Zauberwort wie ein Brückenkopf in Frankreich für die Engländer. Seit der Zeit, als der Herzog von Anjou die Alpen nach Süden überquerte, 1382, zog sein Anspruch auf den Königsthron von Neapel Frankreich südwärts und schuf eine Bereitschaft zur Intervention in Italien, die fast zur Gewohnheit werden und fünfhundert Jahre lang die französische Politik beeinflussen sollte. Das Grundmuster dieser Expeditionen legte der Herzog von Anjou gleich zu Beginn, als sein Feldzug nach kurzer Zeit zu scheitern drohte und er wiederholt um Verstärkung unter dem Sire de Coucy nach Paris sandte.
Angeviner hatten das Königreich von Neapel und Sizilien beherrscht, seit Karl I. von Anjou, der jüngere Bruder Ludwigs des Heiligen, König von Frankreich, durch den Einfluß des Papstes 1266 auf den Thron gesetzt worden war. Sizilien ging am Ende dieses Jahrhunderts an Aragon, aber die angevinische Dynastie hielt den festländischen Teil des Reiches, der die ganze untere Hälfte Italiens südlich von Rom umfaßte, das größte Staatsgebiet der Halbinsel. Der Name Sizilien wurde nur noch formell im Titel geführt. Das Reich blühte kulturell und wirtschaftlich unter der zivilisierten Herrschaft König Roberts auf, des »neuen Salomo«, dessen literarisches Urteil selbst Petrarca suchte. Boccaccio folgte Petrarca nach Neapel, weil er das Leben in dem » glücklichen, friedvollen, großzügigen und prächtigen Neapel mit seinem einzigartigen Monarchen« dem Aufenthalt in dem »von unzähligen Sorgen zerfressenen« [Ref 304] Florenz, seinem Heimatstaat, vorzog. Robert baute seinen Palast Castel Nuovo an der unvergleichlichen Bucht von Neapel,
wohin die Schiffe von Genua, Spanien und der Provence kamen, um Handel zu treiben. Edelmänner und Kaufleute errichteten ihre Palazzi in der Nachbarschaft und holten die Künstler der Toskana nach Neapel, um ihre Säle mit Skulpturen und Fresken zu schmücken. Unter gerechten Gesetzen und mit einer festen Währung, sicheren Straßen, Gasthäusern für reisende Händler, Festen, Turnieren und Musikveranstaltungen verwandelte sich das Land unter Roberts Herrschaft, die 1343 zu Ende ging, in »so etwas wie ein Paradies«. Die Bürger konnten unbewaffnet durch Kalabrien und Apulien reisen, »sie brauchten nur einen Knüppel, um sich der Hunde zu erwehren«.
Der Gifthauch des 14. Jahrhunderts berührte das Land nach dem Tod des guten Königs. Roberts Talente fanden sich in sehr viel geringerem Maße in seiner Enkelin und Nachfolgerin Johanna, deren vier unglückliche Eheschließungen das Reich in ein Chaos stürzten, das im Kirchenschisma gipfelte. Der Konflikt der Päpste verwandelte Neapel in ein Schlachtfeld. Als Johanna sich für Klemens VII. entschied und auf seinen Rat den Herzog von Anjou zu ihrem Nachfolger ernannte, erklärte der wütige Urban sie als Ketzerin für abgesetzt und krönte einen anderen Angeviner, Karl, den Herzog von Durazzo, als rechtmäßigen König von Neapel. Von einem obskuren albanischen Fürstentum auf den Thron eines großen mittelalterlichen Königtums erhoben, regierte er als Karl III.
Karl von Durazzo war ein kleiner, blonder Mann, dem man nachsagte, er ähnelte in seinem Mut, seiner Freundlichkeit und seiner Liebe zur Wissenschaft dem toten König Robert. Aber seine Gutmütigkeit hinderte ihn nicht daran, Johanna mit äußerstem Grimm zu bekämpfen. Innerhalb von zwei Monaten besiegte er ihre Streitkräfte, etablierte sich im Castel Nuovo und warf die Königin ins Gefängnis, um sie zu zwingen, ihn als Thronerben anzuerkennen und somit seine Eroberung endgültig zu legitimieren. Immer ist es das erste Ziel eines Staatsstreichs, sich in das Kleid der Legitimität zu hüllen. Als Johanna sich weigerte, ihn anzuerkennen, und der Herzog von Anjou in Italien einmarschierte, um ihr zu Hilfe zu kommen, zögerte Karl keinen Augenblick.
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