Der ferne Spiegel
Mammutversammlung auf dem Hof des Marmortisches für den 1. März, dem Jahrestag der Maillotinerhebung, zusammen. Eine Person aus jedem Haus von Paris war verpflichtet zu erscheinen – ohne Kopfbedeckung. Karl VI. saß, eingerahmt von seinen Onkeln und Ratsherren, auf einer Plattform, während der Kanzler Pierre d’Orgement im Namen des Königs eine schroffe Anklageschrift aller Verbrechen verlas, die das Volk von Paris seit dem Tod Karls V. begangen hatte. Nachdem er die Hinrichtungen erwähnt hatte, rief er mit fürchterlicher Stimme: »Es ist noch nicht beendet!« Das Volk wußte, was von ihm erwartet wurde. Angstschreie gellten durch den Hof. Mit unordentlicher Kleidung und wirren Haaren streckten die Frauen von verhafteten Männern die Arme dem König entgegen, flehten ihn mit Tränen in den Augen um Gnade an. Die stolzen Onkel und der jüngere Bruder des Königs, Ludwig, knieten nieder und baten den König um zivilrechtliche statt strafrechtlicher Bestrafung der Bürger – Zivilrecht bedeutete Geldstrafen. Orgement verkündete dann, daß der König seiner Güte gehorchend und aus Liebe zu seinen Verwandten einer Generalamnestie zustimme, die aber sofort aufgehoben werden würde, wenn die Pariser in ihre alten Sünden zurückfielen. Die Verurteilten sollten aus den Gefängnissen entlassen werden, die Todesstrafe, nicht aber die Geldbußen seien ihnen erlassen. Einige reiche Männer wurden mit so schweren Bußen belegt, daß diese sie alles, was sie besaßen, kostete.
Ähnliche Strafmaßnahmen trafen Amiens, dessen uraltes
Stadtrecht aufgehoben wurde, Laon, Beauvais, Orléans und andere Städte. Die enormen Summen, die durch Bußgelder zusammenkamen, betrugen 400 000 Franken aus Paris und vergleichbare Ziffern aus den Provinzen. Vieles davon wanderte in die Taschen der Onkel; auch der Constable und andere königliche Beamte, die ein Jahr lang keine Entlohnung erhalten hatten, mußten abgefunden werden, und schließlich wurden den Adligen, darunter auch Coucy, die Kosten des Flandernfeldzuges erstattet. Coucy empfing 13 200 Franken und das Versprechen, zu einem Drittel an den militärischen Hilfszahlungen beteiligt zu werden, die aus seinen Ländereien an die Krone flossen. Damit sollte er die Kosten decken, die ihm durch die Befestigung seiner Burgen und Städte entstanden waren.
Seltsamerweise war Coucy trotz der Rolle, die er bei der Abnahme der Torflügel gespielt hatte, in Paris nach wie vor wohlangesehen. Im Volk verbreitete sich ein Gerücht, daß »der Sire de Coucy nicht davor zurückgeschreckt sei, den König zu ermahnen und ihm zu sagen, daß er nicht sein eigenes Land zerstören möge, da er sonst selbst mit dem Spaten arbeiten müsse«. Die Prophezeiung, die den König bei der Arbeit eines Bauern vorstellte, wurde populär und sollte ein langes, merkwürdiges Leben haben. [Ref 302]
Die Autorität der Löwen war voll wiederhergestellt. Paris bekam erst dreißig Jahre später wieder einen Vorsteher der Kaufleute; Rouen gewann die Freiheiten, die es vor der Harelle besessen hatte, niemals zurück. Die Aufständischen hatten nur dort zeitweise die Macht ergreifen können, wo es keine stehenden Streitkräfte des Staates gab. Außer in Gent konnten sie sich nirgends halten, weil sie selbst keine klare Konzeption ihrer geschichtlichen Rolle hatten und weil sie in sich selbst zerstritten waren. Die Armen waren die eigentlich explosive Kraft, aber sie wurden zum Instrument der Kaufleute, deren Interessen nicht die ihren waren. Die Bemühungen der Städte um Unabhängigkeit scheiterten, weil sie miteinander rivalisierten. Gent kämpfte noch zwei Jahre weiter, bis seine Privilegien nach dem Tod des Louis de Male durch den Herzog von Burgund wiederhergestellt wurden, der sein Erbe konsolidieren wollte. Die Entwicklung, die mit Etienne Marcels Revolte in Paris
begonnen hatte, setzte sich fort: Im gleichen Ausmaß, wie die Städte verloren, gewann die Monarchie, während die Krone zugleich durch finanzielle Unterstützung den Adel zunehmend an sich band.
Nach dem Sturm erschien die untere Klasse als gefährlicher, verdächtiger. Sie wurde nun als ein dynamischer statt passiver Teil der Gesellschaft angesehen, von manchen mit Furcht, von anderen mit Sympathie. »Deshalb müssen die Unschuldigen Hungers sterben, mit denen diese großen Wölfe täglich ihren Rachen füllen«, schrieb Deschamps. »Dieses Getreide, dieses Korn, was ist es anderes als das Blut und die Knochen der armen Leute, die das Land
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