Der ferne Spiegel
Piemont, Florenz und den gesammelten Despoten und Gemeinden von Norditalien waren ständig im Fluß. Sobald eine Macht sich einer anderen gegen eine dritte anschloß, um sich einen schnell vergänglichen Vorteil zu verschaffen, wechselten alle anderen wie in einem Trecento-Volkstanz die
Partner. Venedig hatte eine Fehde mit Genua, Mailand spielte die beiden gegeneinander aus und befehdete Florenz und verschiedene Fürstentümer von Piemont, Florenz lag in einer Fehde mit seinen Nachbarn Siena, Pisa und Lucca und begründete verschiedene Ligen gegen Mailand; die Politik des Papstes Urban VI. hielt alle in ständiger Bewegung.
Die erste Fallgrube, die Coucy zu umgehen hatte, war die Eifersucht zwischen Bernabò und seinem melancholischen Neffen Gian Galeazzo, der seit dem Tod seines Vaters 1378 in Pavia herrschte. Raffiniert, verschwiegen und trügerisch-sanft kultivierte Gian Galeazzo den Ruf, schüchtern und zugleich so willensstark und ungezügelt wie Bernabò zu sein. Später, als er berühmter war, sagte Francesco Carrara von Padua über ihn: »Ich kenne Gian Galeazzo. Weder Ehre noch Mitleid noch Treueschwüre haben ihn jemals zu einer selbstlosen Tat getrieben. Wenn er je das Gute sucht, dann, weil sein Interesse es fordert, denn er ist ganz ohne Moral. Güte wie Haß oder Zorn ist für ihn eine Frage der Berechnung.« Da er ein Gegner Galeazzos war, ist Carraras Meinung natürlich parteiisch, aber deshalb nicht notwendigerweise ungültig; der Charakter, den er Gian Galeazzo zuschreibt, nimmt Machiavellis Fürsten um mehr als ein Jahrhundert vorweg. [Ref 309]
Gian Galeazzo war verärgert und besorgt über Bernabòs Eindringen in seine – älteren – Beziehungen zur königlichen Familie Frankreichs. »Bernabò schließt neue Bündnisse mit Frankreich«, warnte Gian Galeazzos Mutter. »Wenn er mit dem König verwandt ist, wird er dir deine Herrschaft entreißen.« Mit nur noch einem ihm verbliebenen Kind konnte Gian Galeazzo dem Onkel mit seinem wohlgefüllten Stall in Bündnissen keine Konkurrenz machen. Aber wenn er ihm auch keine Konkurrenz machen konnte, er konnte ihn beseitigen, eine kalte Alternative, die von diesem Augenblick an – wie später deutlich wurde – in seinem Hirn Gestalt annahm.
Inzwischen zahlte er still seinen Anteil an den Subsidien für den Herzog von Anjou und bereitete den Empfang von Coucy in Pavia vor. Zehn Jahre waren seit ihrem Zusammentreffen in Montichiari vergangen, jenem Gefecht, das Gian Galeazzos Abneigung gegen Schlachten so bestärkt hatte, daß er seither nie wieder ins Feld gezogen
war. Aber Coucy kam nicht nach Pavia, um die Bekanntschaft aufzufrischen, wahrscheinlich weil Bernabò nicht wünschte, daß sein Neffe den französischen Gesandten traf.
Coucys Ankunft in Norditalien löste große Aufregung aus. Siena schickte ihm heimlich Botschafter nach Mailand, um um Unterstützung gegen Florenz zu verhandeln. Florenz sandte Unterhändler, um Coucy mit höflichen Worten und Freundschaftsbeteuerungen von der Toskana fernzuhalten. Die florentinische Diplomatie wurde von dem langjährigen Kanzler der Stadt, Colucci Salutati, bestimmt, einem kultivierten Gelehrten, der seine internationale Korrespondenz in einem eleganten Latein führte, das seiner Republik viel Ehre machte. Die Kontinuität seines Amtes, das dem eines Stadtverwalters gleichwertig war, verlieh ihm großen Einfluß, und die Tatsache, daß seine Ernennung über einen Zeitraum von dreißig Jahren regelmäßig bestätigt wurde – dies bei der Turbulenz der politischen Auseinandersetzungen in Florenz –, verweist auf einen Mann von bemerkenswerter politischer Befähigung, um nicht zu sagen bemerkenswertem Gleichmut. Sein Herz gehörte der Literatur und dem neuen Humanismus, aber in Ausübung seiner Geschäfte war er effizient, fleißig, gelehrt und freundlich, sein Stil und seine Integrität wurden gerühmt. Gian Galeazzos Aussage zufolge hatte ein Staatspapier von Salutati in der politischen Waagschale das Gewicht von tausend Reitern. Dies war Coucys Gegenspieler. [Ref 310]
Coucy beantwortete die Grüße der Florentiner mit unübertrefflicher Höflichkeit. »Wir begegneten uns«, sagt der Bericht, den wahrscheinlich Salutati verfaßte, »mit freudigen Umarmungen und Grüßen, und er sprach uns beruhigend und friedfertig an. Er nannte uns nicht Brüder und Freunde, sondern gar Väter und Lehrer . . . Nicht nur versprach er, sich jeder Feindseligkeit gegen uns zu enthalten, er verpflichtete sich sogar, uns
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