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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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zuzuschlagen. Nach dem Register seiner Taten zu urteilen, war er ein Mann ohne Moral, aber nicht nur er allein. Montfort hatte ebenso wie er Ehre, Treue und jedes andere Prinzip der Ritterlichkeit verletzt, als er Clisson gefangengenommen hatte. Clisson selbst war auch kein
Roland. In der Lebenszeit dieser Männer, unter den zerstörerischen Nachwirkungen von Pest, Brigantentum und Schisma, zerbröckelten die alten Verhaltensmuster.
    Von acht Dienern begleitet, die Fackeln trugen, aber nicht für den Kampf gerüstet waren, kehrte Clisson zu Pferd von einem Fest beim König in St. Pol zurück. Er besprach mit seinem Knappen ein Essen, das er am folgenden Tag für Coucy, Orléans und Vienne geben wollte, als plötzlich der Schein der Fackeln auf eine dunkle Masse von Berittenen fiel und sich schwach auf Brustpanzern und Helmen spiegelte. Die Männer Craons griffen mit dem Ruf »A mort! A mort!« an und löschten Clissons Fackeln, aber sie wußten offenbar nicht, wem der Anschlag galt. Sie waren entsetzt, als sie ihren Anführer in seiner Aufregung rufen hörten: »Clisson, Ihr müßt sterben!«, während er sie mit gezogenem Schwert vorantrieb.
    Clisson rief seinem unbekannten Angreifer zu: »Wer seid Ihr?« »Ich bin Pierre de Craon, Euer Feind!« antwortete der in aller Offenheit, denn er war sich seiner Sache sicher und erwartete als Folge des Anschlags einen Sturz der Regierung. Seine Männer, von der Erkenntnis überrascht, daß sie dabei waren, den Constable von Frankreich zu ermorden, zögerten, »denn Verrat ist niemals kühn«. Nur mit einem Dolch bewaffnet, verteidigte sich Clisson verzweifelt, bis er, von vielen Hieben getroffen, vom Pferd stürzte. Er fiel auf die Schwelle einer Bäckerei, und die Wucht des Sturzes brach die Tür auf, gerade in dem Moment, als der Bäcker, der den Lärm gehört hatte, erschien. Der Mann zog ihn ins Haus. In dem Glauben, Clisson getötet zu haben, hastete Craon mit seiner Truppe davon. Die Überlebenden von Clissons Gefolge fanden ihn in dem Bäckerladen, in Blut gebadet und scheinbar leblos. Als der König, geweckt und über das schreckliche Ereignis informiert, die Bäckerei erreichte, hatte Clisson das Bewußtsein wiedererlangt.
    »Wie geht es Euch, Constable?« fragte Karl, erschüttert von dem Anblick.
    »Schwächlich, Sire.«
    »Wer hat Euch dies getan?« Als Clisson den Attentäter nannte, schwor Karl, daß »keine Tat je so gesühnt sein soll wie diese noch
so schwer bestraft«. Er ließ die Ärzte kommen, die, nachdem sie den abgehärteten Körper des Constable untersucht hatten, die Gesundung des Mannes, der hundert Kämpfe überlebt hatte, versprachen. Zu seiner Residenz getragen, wurde Clisson durch einen Besuch Coucys »sehr aufgemuntert«, der als sein Waffenbruder als erster nach dem König informiert worden war.
    Der Befehl, Craon zu ergreifen, blieb ohne Folgen, da die Tore von Paris, immer noch ohne Flügel seit dem Aufstand, nicht geschlossen werden konnten. Als er hörte, daß Clisson unglaublicherweise lebte, entkam Craon aus der Stadt, galoppierte bis nach Chartres und ritt von dort aus weiter in die Bretagne. »Es ist teuflisch«, sagte er Montfort in seiner Erklärung des Scheiterns. »Ich glaube, alle Teufel der Hölle, zu denen Clisson selbst zählt, bewachten ihn und wanden ihn mir aus den Händen, denn er empfing mehr als sechzig Hiebe von Schwertern und Messern, und ich glaubte wahrhaftig, er sei tot.«
    König Karl, der sich selbst in der Person des obersten Verteidigers des Staates getroffen sah, verfolgte den Attentäter mit unersättlicher Wut. Zwei von Craons Knappen und ein Page wurden sofort nach ihrer Ergreifung enthauptet ebenso wie der Verwalter seiner Residenz, weil er die Rückkehr Craons in die Hauptstadt nicht gemeldet hatte. Einem Domherrn, der Craon in Chartres beherbergt hatte, wurde das Benefiz entzogen, und er wurde zu andauernder Enthaltsamkeit bei Brot und Wasser im Gefängnis verurteilt. Craons Besitzungen und Einkünfte wurden zugunsten des königlichen Schatzes enteignet und beschlagnahmt; seine Residenzen und Burgen sollten geschleift werden. Die Aufregung des Königs ging, wie es bei königlichem Zorn der Fall zu sein pflegt, auf seine Bevollmächtigten über. Admiral de Vienne, der die Aufgabe hatte, ein Register der Besitzungen Craons aufzustellen, warf Berichten zufolge Craons Frau und Tochter nur in den Kleidern, die sie trugen, ohne Besitz oder Geld auf die Straße – nachdem er überdies, nach einem anderen

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