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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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vom Zügel, aber da er nur ein armer Verrückter zu sein schien, nahm sie ihn nicht fest, auch nicht, als er dem Zug noch eine halbe Stunde lang folgte und dem König Verrat in die Ohren schrie.
    Als sie aus dem Wald in offenes Gelände hinausritten, war es Mittag. Roß und Reiter litten unter den Strahlen der Sonne. Einer der Pagen nickte im Sattel ein und ließ die Lanze des Königs fallen,
die mit lautem metallischem Klang gegen den Helm in den Händen seines Kameraden schlug. Der König erzitterte, dann zog er plötzlich das Schwert, spornte sein Pferd und griff mit den Worten: »Vorwärts gegen die Verräter! Sie wollen mich dem Feind ausliefern! «, die in seiner Umgebung reitenden Männer an. Vorpreschend und immer wieder wendend schlug er auf jeden in Reichweite los.
    »Mein Gott«, rief der Herzog von Burgund, »der König weiß nicht, was er tut! Halte ihn jemand zurück!« Niemand wagte, das zu versuchen. Die Schläge abwehrend, aber ohne zurückzuschlagen, bewegten sie sich entsetzt im Kreis um ihn herum, während Karl wild gegen den einen oder anderen vorpreschte, bis er erschöpft war, keuchte und schwitzte. Dann umklammerte ihn sein Kammerherr, Guillaume de Martel, den er sehr liebte, von hinten, während andere ihm das Schwert entwanden, ihn vom Pferd hoben und sanft auf den Boden legten. Er lag bewegungslos und stumm da, starrte mit offenen Augen, ohne aber jemanden wahrzunehmen. Ein oder mehrere Ritter (die Anzahl ist in verschiedenen Chroniken abweichend), die er in seinem Anfall getötet hatte, lagen in der Nähe im Staub.
    Kühn wie immer ergriff Philipp von Burgund das Kommando. »Wir müssen nach Mans zurückkehren«, entschied er. »Dies beendet den Marsch gegen die Bretagne.« In einem Ochsenkarren, der gerade vorüberkam, wurde der König von Frankreich zurückgeschafft, während die bestürzte Armee, deren Führer zum Teil schon voller Zorn an die Zukunft dachten, ihm folgte. Karl lag vier Tage im Koma, nur sein Herzschlag zeigte an, daß er noch lebte, und man glaubte, er läge auf seinem Sterbebett. Seine Ärzte konnten dem Hof nur wenig Hoffnung machen, und andere Doktoren, die herbeigerufen worden waren – Burgunds, Orléans’, Bourbons – , waren sich nach der Untersuchung einig, daß ihre Wissenschaft hier machtlos war.
    Als die schreckliche Nachricht vom Wahnsinn des Königs sich verbreitete, waren Gerüchte von Gift und Hexerei in aller Mund, und die Aufregung im Volk war so groß, daß das Krankenzimmer für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden mußte. Die vielen Tränen und der laute Jammer eines königlichen Abschieds
erfüllten den Raum, und » alle guten Franzosen weinten wie um ihren einzigen Sohn, denn die Gesundheit Frankreichs hing an der des Königs«. Schluchzende Geistliche beteten für ihn, Bischöfe führten barfüßige Prozessionen, auf denen lebensgroße Wachsabbilder des Königs mitgeführt wurden, in die Kirchen, die Menschen häuften ihre Bittopfer vor Reliquien auf, die Heilung versprachen, und warfen sich vor Christus und den Heiligen auf den Boden, um Heilung zu erflehen.
    Wenige glaubten, daß die Heimsuchung natürliche Ursachen hatte. Einige sahen sie als Ausdruck des Zornes Gottes an, weil der König es versäumt hatte, mit der Waffe das Schisma zu beenden; andere als eine Warnung Gottes vor eben einem solchen Unternehmen; wieder andere als Strafe für die harten Steuern. Die meisten glaubten, daß die Ursache Hexerei war, dies um so mehr, als eine große Dürre in diesem Sommer die Teiche und Flüsse ausgetrocknet hatte, so daß das Vieh verdurstete, die Binnenschiffahrt zum Erliegen kam und die Handelskaufleute die schlimmsten Verluste in zwanzig Jahren erlitten hatten. [Ref 381]
    In einer morbiden Zeit war der Verdacht einer Verschwörung gegen den König sofort Gesprächsthema. Das Geflüster konzentrierte sich auf die Herzöge. Warum hatte man das »Phantom des Waldes« nicht festgenommen und befragt? War er von den Onkeln oder vom Herzog der Bretagne dort hingestellt worden, um den König zu bewegen, umzukehren? Hatte der wütende Ärger des Königs über die Verzögerungen durch die Herzöge die Umnachtung ausgelöst? Um die Verdächtigungen in der Öffentlichkeit zu beschwichtigen, ließ der Herzog von Burgund eine formale Untersuchung abhalten, in der die Ärzte Karls frühere Krankheiten bezeugten.
    Auch Coucy hatte seinen persönlichen Arzt herbeigerufen, den ehrwürdigsten und gelehrtesten in Frankreich. Dies war Guillaume de

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