Der ferne Spiegel
Bericht, die Tochter vergewaltigt hatte – und eignete sich die Wertsachen und schönen Möbel der Residenz gleich selbst an. Vielleicht meinte er, daß Craons Verrat solche Unanständigkeit rechtfertigte, aber sein Verhalten wurde von seinen Adelsgenossen weithin verurteilt. Seltsame Exzesse
entsprangen dem Mordversuch an dem Constable, als ob Craons Tat die Ansteckungskraft des Bösen freigesetzt hätte.
Die Ereignisse entwickelten sich vom Mord zum Krieg, als der Herzog der Bretagne, dem befohlen wurde, den Schuldigen auszuliefern, jedes Wissen um ihn bestritt und es ablehnte, sich überhaupt um die Angelegenheit zu kümmern. Angesichts solchen Trotzes rief der König zum Krieg. Kaum gesundet von der Krankheit in Amiens, erschien Karl oft geistesabwesend und sprach unzusammenhängend. Seine Ärzte rieten von dem Feldzug ab, aber von seinem Bruder ermutigt, bestand Karl darauf. Die Herzöge von Burgund und Berry, die sich auf den Herzog der Bretagne als ihren Verbündeten in der politischen Auseinandersetzung stützten, setzten ihre ganze Kraft darein, den Kriegszug zu verhindern. Die Herzogin von Burgund fügte dem Konflikt die Hitzigkeit einer Familienfehde hinzu, da sie Montforts Nichte und daher auf seiner Seite war. Sie haßte Clisson mit giftiger Intensität. Der Einfluß Burgunds stand mit Sicherheit hinter der Asylgewährung für Craon. Von dem Herzog von Berry wurde sogar behauptet, er habe von dem Anschlag auf Clisson vorher gewußt.
Als es sich herumsprach, daß Clissons Letzter Wille, den er nach dem Mordversuch diktiert hatte, über ein Vermögen von 1 700 000 Franken verfügte, Land nicht eingerechnet, war die eifersüchtige Wut der Onkel, die sich in Fragen des Besitzes nicht gerne ausstechen ließen, grenzenlos. Ein solches Vermögen – es war größer als das des Königs, ließen sie verlauten – konnte aus keiner ehrlichen Quelle kommen. Die Öffentlichkeit war durchaus geneigt, das zu glauben, denn Rivière und Mercier hatten ebenfalls im Dienst der Regierung Vermögen angehäuft und wurden allgemein als arrogant und bestechlich betrachtet. All diese Fehden und Gehässigkeiten schwelten im Rücken eines labilen Königs, der nach Krieg schrie.
Der königliche Rat stimmte dem Feldzug zu; die Onkel, die mit der Entscheidung nichts zu tun hatten, sich dem König aber anschließen mußten, hatten einen Grund mehr, die Minister zu hassen. »Sie träumten von nichts anderem, als diese zu vernichten.« Der König verließ Paris in der Begleitung von Bourbon und Coucy am 1. Juli und zog langsam in vielen Etappen nach Westen, während
immer mehr Ritter und Knappen herbeiströmten und sich dem Heer anschlossen. Karls geschwächte Gesundheit erforderte lange Marschpausen, und weitere Verzögerungen ergaben sich durch das Warten auf die Onkel. Immer noch in der Hoffnung, den Krieg zu vereiteln, zauderten und trödelten sie, was Karl in ein Fieber der Ungeduld warf. Er nahm sich kaum die Zeit, etwas zu essen oder zu trinken, war jeden Tag im königlichen Rat, kam immer wieder auf die Beleidigung zurück, die man ihm durch seinen Constable zugefügt hatte, reagierte gereizt auf jeden Widerspruch und weigerte sich konsequent, einen Aufschub der Bestrafung des Herzogs der Bretagne zu akzeptieren. Die Uneinigkeit, die die Herzöge von Burgund und Berry mit sich brachten, wurde in die Armee hineingetragen. Die Ritter stritten sich über Recht und Unrecht des Unternehmens. Als Antwort auf eine zweite Aufforderung, Craon auszuliefern, leugnete Montfort noch einmal, irgend etwas von ihm zu wissen. Karl VI., obwohl von seinen Ärzten als »fiebernd und nicht in der Lage zu reiten« erklärt, wollte nicht länger warten.
In der Hitze des August begann der Zug in Le Mans an den Grenzen der Bretagne. Auf einer sandigen Straße ritt der König in einer schwarzen Samtjacke und einem Hut aus rotem Samt, der mit Perlen verziert war, von den anderen ein wenig abgesetzt, um dem Staub zu entgehen. Zwei Pagen ritten hinter ihm, einer trug seinen Helm, der andere seine Lanze. Voran ritten die zwei Onkel in einer Gruppe und Ludwig von Orléans und Coucy in einer anderen. Als der Zug durch den Wald von Le Mans marschierte, trat plötzlich ein rauh aussehender barfüßiger Mann in einem zerlumpten Gewand hinter einen Baum hervor, ergriff die Zügel des Königs und rief mit Untergangsstimme: »Reitet nicht weiter, edler König! Kehrt um! Ihr seid verraten!« Karl schreckte entsetzt zurück. Die Wache schlug die Hand des Mannes
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