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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Harsigny, in Laon geboren und nun 92 Jahre alt – so alt wie das Jahrhundert. Nachdem er den Doktorgrad der Universität von Paris erworben hatte, war er viel gereist, um seine Kenntnisse zu erweitern, hatte unter arabischen Lehrern in Kairo und italienischen in Salerno studiert und war schließlich mit Ruhm bedeckt in seine Heimat, die Picardie, zurückgekehrt. Nichts an menschlicher
Krankheit war ihm unbekannt. Unter seiner Obhut – wenn vielleicht auch eher aus natürlichen Gründen – ging das Fieber des Königs zurück, und Zeitspannen der Klarheit traten ein, in denen der arme junge Mann, noch nicht fünfundzwanzig, mit Schrecken erkannte, was ihm geschehen war. Innerhalb eines Monats hatte sich Karl physisch gut genug erholt, um von Harsigny in die Burg von Creil, hoch über dem Fluß Oise, verlegt zu werden, wo es angeblich »die beste Luft in der Gegend von Paris« gab. Der Hof floß über vor Freude und vor Lob für das Geschick von Coucys Arzt.
    Die ersten vier Tage, als man noch erwartete, daß Karl sterben würde, gaben den Onkeln die Gelegenheit, gegen die Marmosetten vorzugehen. »Die Stunde ist gekommen«, sagte der Herzog von Berry, »ihnen in gleicher Münze heimzuzahlen.« Noch am Tag des Anfalls des Königs riet jemand, der einen scharfen Blick für die Bewegung des Schicksalsrades hatte, den Marmosetten zur Flucht. Am nächsten Tag, noch in Le Mans, entließen Berry und Burgund, die als die ältesten Verwandten des Königs die Autorität beanspruchten, obwohl in Wirklichkeit Ludwig der Krone näher war, den gesamten königlichen Rat, lösten die Armee auf und ergriffen die Zügel der Regierung. Nach ihrer Rückkehr in die Hauptstadt riefen sie einen neuen, ihnen hörigen Rat zusammen, der denn auch die Regentschaft Philipp dem Kühnen zusprach – mit der Begründung, Ludwig von Orléans sei zu jung – und die Marmosetten absetzte. Rivière und Mercier, die gezögert hatten, die Macht rechtzeitig aus der Hand zu geben, wurden festgenommen und ins Gefängnis geworfen, ihre Ländereien, Häuser und Vermögen beschlagnahmt. Ein umsichtigerer Kollege, Jean de Montagu, der angeblich ein natürlicher Sohn Karls V. war, hatte mit seinem Vermögen, sobald er von dem Anfall des Königs hörte, in Avignon Zuflucht gesucht. [Ref 382]
    Die Schnelligkeit und Widerstandslosigkeit, mit der der Umsturz ablief, ist fast unglaublich. Nur die Umnachtung des Königs und die Verwundung Clissons machten ihn möglich. Ohne königliche Autorität hatten Mercier und Rivière keinen unabhängigen Status; kein Regent war für den sechs Monate alten Dauphin ernannt worden; Ludwig von Orléans fehlte die Selbstsicherheit und Entschlossenheit zu handeln, obwohl er hätte die Kontrolle übernehmen
können, wenn Coucy, Bourbon und der Rest des Rates bereit gewesen wären, sich eindeutig gegen die Herzöge zu stellen. Offensichtlich waren sie es nicht. Sie konnten sich der militärischen Unterstützung des Adels nicht sicher sein, da dieser alles andere als geschlossen war. In der Unsicherheit über den Zustand des Königs wußte niemand, an wen die Macht schließlich gehen würde. Vor allem war der Constable hors de combat , außer Gefecht.
    Mit sicherem Instinkt scheint Coucy sich schnell entschlossen zu haben, denn am 25. August nahm er eine Mission an, zusammen mit dem Kammerherrn des Herzogs von Burgund, Guy de Tremoille, in die Bretagne zu reisen, um Montfort mitzuteilen, daß der Krieg gegen ihn abgesagt sei. In dem Schicksal von Mercier und Rivière spielte Coucy eine dunklere Rolle. Obwohl er in vielen Missionen gemeinsam mit Rivière gedient hatte, war Coucy Mitglied einer Truppe, die ausgesandt wurde, seinen früheren Partner von über fünfzehn Jahren in einer Burg zu ergreifen, in die der sich geflüchtet hatte, um der Festnahme zu entgehen. Angeblich öffnete Rivière selbst seinen Häschern die Tore. Seine Witwe behauptete zehn Jahre später, als ihr Gatte und Coucy bereits tot waren, daß Coucy Truhen voller Silber und Gold und Wandteppiche aus der Burg geraubt habe. Zu Lebzeiten beider Männer wurde eine solche Anklage nie laut.
    Coucy profitierte aber in aller Offenheit im Fall von Mercier. Um ihn an sich zu binden, überließen die Herzöge Coucy Merciers wichtigste Burg Nouvion-le-Comte in der Diözese von Laon einschließlich aller Pachten und Einkünfte. Die Übertragung des Besitzes eines Adligen, der enteignet worden war, auf einen anderen, den der Herrscher sich verpflichten wollte, zählte zur

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