Der ferne Spiegel
Wandgemälde des Tanzes in La Chaise-Dieu in der Auvergne.
Der Todeskult sollte seinen Höhepunkt im 15. Jahrhundert erreichen, aber seine Quelle war das 14. In einer Zeit, in der man dem Tod an jeder Straßenecke begegnen konnte, hätte er – so könnte man annehmen – banal werden können; statt dessen übte er eine gespenstische Faszination aus. Die Darstellungen betonten die Verwesung, Würmer und greuliche körperliche Details. War früher die spirituelle Reise der Seele die beherrschende Idee der Todesthematik gewesen, so erschien nun der verfaulende Körper bedeutungsvoller. Die Grabbildnisse früherer Zeiten waren heiter, die Hände im Gebet gefaltet, die Augen geöffnet – in ruhiger Erwartung des ewigen Lebens. Nun ließen sich große Kirchenfürsten häufig nach dem Vorbild Harsignys als Kadaver in realistischem Detail darstellen. Um dies leisten zu können, wurden Totenmasken und Wachsabdrücke von Körperteilen angefertigt, was in einem Nebeneffekt die Kunst der Porträtskulptur förderte. Individuelle
Züge erschienen verstärkt in den Bildnissen. Die Botschaft, die diese Darstellungen vermittelten, war jene des Danse Macabre. Über dem dürren unverhüllten Leichnam des Kardinals Jean de La Grange, der 1402 in Avignon sterben sollte, fragte eine Inschrift den Betrachter: »Nun, Elender, welchen Grund gibt es für den Stolz?«
Der Kult der Trauer machte in den kommenden Jahrzehnten den Friedhof der Unschuldigen in Paris, auf dessen Mauern der Danse Macabre gemalt war, zum begehrtesten Bestattungsort und zugleich zu einem populären Treffpunkt im Paris. Reiche Bürger und Adlige – unter ihnen Boucicaut und der Herzog von Berry – ließen Beinhäuser, die später einmal ihre Überreste aufnehmen sollten, in die achtundvierzig Bögen des Kreuzganges hineinbauen. Da zwanzig Gemeinden das Recht hatten, ihre Toten dort zu begraben, mußten die früher bestatteten Leichen fortlaufend ausgegraben und ihre Grabsteine verkauft werden, um Platz für neue zu schaffen. Die Schädel und Knochen, die unter den Bögen des Kreuzgangs aufgestapelt lagen, zogen die Neugierigen an – sie waren der trübselige Beweis der letztlichen Gleichheit. Läden aller Art fanden ihren Platz im oder am Kreuzgang; Prostituierte suchten ihre Kunden dort, Alchimisten fanden einen Marktplatz, Liebhaber ein beliebtes Rendezvous, Hunde liefen ein und aus. Die Pariser kamen, um die Beinhäuser anzusehen, Bestattungen und Exhumierungen zu beobachten, die Wandgemälde zu bewundern und ihre Inschriften zu lesen. Sie hörten stundenlange Predigten an und erzitterten, als »der Tote« mit Hörnerklang von der Rue St. Denis hereinkam, hinter ihm die Prozession der schrecklichen Tänzer. [Ref 390]
Die Kunst wandte sich der Trauer zu. Die Dornenkrone, vorher kaum dargestellt, wurde zu einem realistischen Marterinstrument, das die Gemälde der zweiten Jahrhunderthälfte mit Blut übergoß. Der Jungfrau wurden sieben Klagen zugeschrieben, von der Flucht nach Ägypten zur Pietà – der im Tod erschlaffte Körper des Sohnes ausgestreckt auf ihren Knien. Claus Sluter, der Bildhauer des Herzogs von Burgund, formte 1390 die erste in Frankreich bekannte Pietà für den Konvent von Champmol in Dijon. Zur gleichen Zeit erscheinen mitten in dieser Düsterkeit die spielerischen, lächelnden
Gesichter der sogenannten »Schönen Madonnen« mit ihren sanft fallenden Gewändern und glücklichen Säuglingen. Die weltliche Malerei dieser Zeit ist exquisit und lebensfroh; der Tod stört niemals diese lyrischen Picknickszenen am Fuße verzauberter Türme.
In den Jahren 1388 bis 1390 kehrte der Schwarze Tod zum vierten Male wieder. Frühere Neuausbrüche der Seuche hatten vor allem die Kinder getroffen, die noch nicht immun waren, aber jetzt fiel auch eine neue Erwachsenengeneration der schnellen Anstekkung zum Opfer. Bis zu dieser Zeit war die Bevölkerung Europas bereits auf 40 bis 50 Prozent dessen gefallen, was sie zu Beginn des Jahrhunderts gewesen war; sie sollte bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts noch weiter zurückgehen. Die Menschen jener Zeit erwähnen diese alarmierende Verkleinerung ihrer Welt nur selten, obwohl sie ihnen sicherlich in der Form verminderten Handels, verringerter Ackerbaufläche, verlassener Abteien und Kirchen, im Krieg zerstörter, aber noch nach sechzig Jahren nicht wiederhergestellter Stadtviertel vor Augen stand. [Ref 391]
Andererseits ist es möglich, daß die Menschen aufgrund geringerer Bevölkerungsdichte besser lebten
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