Der ferne Spiegel
und mehr Geld hatten. Widersprüchliche Überlieferungen gibt es in Hülle und Fülle. Hinweise auf wachsende Handelstätigkeit stehen neben Beweisen für fast zum Erliegen gekommene Geschäfte. Ein italienischer Handelskaufmann, der 1410 starb, hinterließ mehr als 100 000 Dokumente einer Korrespondenz mit Handelspartnern in Italien, Frankreich, Spanien, England und Tunesien. Die Kaufmannsklasse hatte mehr Geld zu Gebote als vorher, und ihre Ausgabenfreudigkeit ermutigte die Künste, bewirkte technische und häusliche Fortschritte. Das 14. Jahrhundert war nicht unfruchtbar. Die Gobelinmanufakturen von Arras, Brüssel und die des berühmten Nicolas Bataille aus Paris fertigten Wunder an, die den Buntglasfenstern den Primat in den dekorativen Künsten raubten. Seekarten wurden genauer, die Seeungeheuer verschwanden aus den unteren Ecken zugunsten von korrekten Küstenlinien und Navigationshilfen. Die bürgerliche Wohlhabenheit schuf ein neues Publikum für Schriftsteller und Poeten und förderte die Literatur durch den Kauf von Büchern. Mehrere tausend Schreiber waren ständig damit beschäftigt,
für die fünfundzwanzig Buchverkäufer und stationarii von Paris Abschriften herzustellen. Die Überladenheit der Architektur mit ihrer verschwenderischen Anzahl von spitz zulaufenden Fialen, von Nischen mit Baldachinen und wunderbar feingearbeiteten Strebepfeilern drückte nicht nur technischen Überschwang, sondern ein Leugnen der Neigung, ja einen Trotz gegen die Gravitation aus. Wie ist der Dom von Mailand, dieser phantastische Berg von Filigranstein, der im letzten Viertel des Jahrhunderts begonnen wurde, mit dem Pessimismus der Zeit in Einklang zu bringen?
Psychologische Wirkungen sind klarer als physische. Niemals ist mehr über die miseria menschlichen Lebens geschrieben worden, und das Gefühl des Bevölkerungsrückganges, wenn auch nicht explizit erwähnt, trug zum Pessimismus über das Schicksal des Menschen bei. »Was hiernach noch kommen soll, weiß Gott«, schrieb John Gower 1393 in England. Weder die Dichter noch die Geschäftsleute zeigten angesichts der Unsicherheiten der Epoche viel Vertrauen in die Zukunft. Die Briefe des Francesco Datini, eines Kaufmanns aus Prato, sind voller Hinweise auf die Furcht vor Krieg, Pest, Hungersnot und Aufstand, gezeichnet von einem völligen Mißtrauen gegen die Regierung und die Ehrlichkeit seiner Standesgenossen. »Die Erde und die See sind voller Räuber«, schrieb er einem seiner Briefpartner, »und der große Teil der Menschheit sinnt Böses.« [Ref 392]
Gerson glaubte, daß er in einer Zeit der Senilität lebte, für ihn war die Gesellschaft wie ein im Fieberwahn taumelnder alter Mann, der unter Illusionen und Trugbildern litt. Wie viele andere meinte auch er, die Zeit für die Ankunft des Antichrist sei gekommen und das Ende der Welt stünde bevor – auf daß eine bessere folgen könnte. In der Volksmeinung wurde die Vorstellung der Apokalypse mit dem Kommen eines großen Kaisers verbunden – einem zweiten Karl dem Großen, einem dritten Friedrich, einem kaiserlichen Messias –, der zusammen mit einem engelhaften Papst die Kirche reformieren, die Gesellschaft erneuern und die Christenheit retten würde. In zunehmendem Maße betonten Kirchenmänner und Moralisten die Eitelkeit weltlicher Dinge – ohne allerdings die Gier und den Stolz auf Besitz sichtbar herabzusetzen.
Eine pessimistische Sicht des Menschenschicksals zu entfalten
war geradezu die Pflicht der Geistlichkeit, da nur so die Notwendigkeit der Erlösung zu beweisen war. Dies war nichts Neues im 14. Jahrhundert. Wenn der Kardinal d’Ailly dachte, die Zeit des Antichrist sei gekommen, so hatte Thomas von Aquin schon hundert Jahre zuvor damit gerechnet. Wenn die Korruption der Kirche die Frommen entsetzte, so war das im Jahre 1040 nicht anders gewesen, als ein Mönch von Cluny schrieb: »Denn wann immer der Glaube unter den Priestern verloren ist . . . was sollen wir denken, als daß die ganze menschliche Rasse von der Wurzel bis zum höchsten Zweig willens wieder in den Abgrund vorzeitlichen Chaos’ zurückfällt?« Wenn in einer Zeit des Verfalls Mézières’ Lieblingswort lautete: »Die Dinge dieser vergänglichen Welt verändern sich immer zum Schlechten«, so übertraf er damit kaum Roger Bacon, der 1271, am Gipfelpunkt einer dynamischen Periode, behauptete: »Mehr Sünde herrscht in diesen Tagen denn in irgendeinem Zeitalter der Vergangenheit . . . die Gerechtigkeit geht unter, aller Friede ist
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