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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Statue der Heiligen Jungfrau übergeben hatten, worauf sie auf der Stelle durch die Luft in ihr Heimatland zurückgetragen worden waren. König Karl kehrte über Coucy-le-Château zurück, wo er in der Gesellschaft des Herzogs von Burgund am 4. Oktober an einem Festessen teilnahm, um dann, immer noch in Begleitung Coucys, auf der Rückkehr nach Paris in St. Denis zu beten. Auch unter dem neuen Regime blieb Coucy ein führendes Mitglied des Rates, was ihn nicht hinderte, zugleich seine Pflichten als Generalleutnant der Auvergne wahrzunehmen.

    Zum Kummer des Hofes bestand der weise, uralte Harsigny entgegen allen Bitten und Angeboten darauf, in die Stille seines Hauses in Laon zurückzukehren. 2000 Goldkronen wurden ihm überreicht, außerdem wurde er mit dem Privileg belohnt, jederzeit vier Pferde der königlichen Stallungen frei benutzen zu können, wann immer er den Hof zu besuchen wünschte. Er wünschte es nicht. Einige Monate später starb er, sein Grabmal trug ein Abbild von historischer Bedeutung.
    Harsignys Grabmal wurde das erste Zeugnis jenes Todeskults, der ein Vermächtnis des 14. Jahrhunderts war. Sein Marmorbild zeigt ihn nicht auf dem Höhepunkt seines Lebens im Alter von dreiunddreißig Jahren, wie es in der Hoffnung auf die Auferstehung üblich war, da die Erwählten im selben Alter wie Jesus Christus wiedererstehen sollten. Vielmehr ist seine Figur nach seinen eigenen Anweisungen das sichtbare Ebenbild der Leiche im Sarg. Der ruhende Körper ist nackt und zeigt die extreme Magerkeit hohen Alters im Augenblick des Todes, welke Haut spannt sich über die Knochen, die Hände sind über den Genitalien gekreuzt, es gibt kein Tuch, keine Hülle von irgendeiner Art – ein reines Bekenntnis der Nichtigkeit irdischen Lebens. [Ref 386]
    Bevor er seinen königlichen Patienten verließ, empfahl Harsigny, Karl nicht wieder mit der Verantwortung für den Staat zu belasten. »Ich gebe ihn euch in guter Gesundheit zurück«, hatte er gesagt, »aber hütet euch, ihn zu reizen oder zu bekümmern. Sein Geist ist noch nicht wieder stark; allmählich erst wird er sich erholen. Belastet ihn mit Arbeit, so wenig ihr könnt; Vergnügungen und Selbstvergessenheit sind besser für ihn als irgend etwas sonst.« Dieser Rat kam den Herzögen in hohem Maße gelegen. Nur formal als Souverän kehrte Karl nach Paris zurück, um sich mit den Damen in den Gärten von St. Pol zu unterhalten und die Amüsements und Festlichkeiten zu genießen, die jeden Abend von seiner Frau und seinem Bruder für ihn veranstaltet wurden. Als Kur des Wahnsinns ließ man der Leichtlebigkeit freien Lauf, und die Onkel griffen nicht ein, »denn solange die Königin und der Duc d’Orléans tanzten, waren sie nicht gefährlich und noch nicht einmal lästig«.
    Die Geschäfte der Hoflieferanten und Geldverleiher blühten,
Mysterienspiele und Zaubereivorführungen füllten jede Stunde, die Mode, besonders der Frisuren, erreichte ungeahnte Extreme. Junge Männer drehten sich Locken und frisierten den Bart in zwei Spitzen, während die kunstvollen, geflochtenen Haarmuscheln, die die Damen über den Ohren trugen, so phantastisch und so groß wurden, daß sie den Kopf wenden mußten, wenn sie durch die Tür traten. Königin Isabeau und ihre Schwägerin Valentina wetteiferten miteinander in Üppigkeit und neuen modischen Einfällen; die Kleider waren mit Juwelen, Rüschen und phantastischen Emblemen überladen. In den Tavernen murmelten die Leute über die Extravaganz und Freizügigkeit des Hofes. Sie liebten den gekrönten Jüngling, der wegen seiner Freundlichkeit, Großzügigkeit und Umgänglichkeit mit allen Schichten Charles le Bien-aimé (der Wohlgeliebte) genannt wurde, aber sie beklagten den Einfluß der »Ausländer« aus Bayern und Italien und gaben den Onkeln die Schuld an den Ausschweifungen, die dem König von Frankreich schlecht anstanden.
    Von ihrem Vater bereits in früher Jugend an die Spitze des Hofes gestellt, hatten Karl und Ludwig nichts von seiner Achtung für die Würde der Krone geerbt; sie besaßen weder Pflichtbewußtsein noch ein Gefühl für Schicklichkeit und Anstand. Jeder ernsthaften Verantwortung beraubt, entschädigten sie sich durch Spiele, und die Spiele der Erwachsenen bedürfen ständig neuer Exzesse, um unterhaltend zu bleiben. [Ref 387]
    An jenem Abend, als diese Spiele ihren schrecklichen Gipfelpunkt erreichten, war Coucy nicht anwesend. Er hielt sich in Savoyen auf, wo er seine Verhandlungstalente nutzte, um eine große

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