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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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oder sogar einen Sieg über sich selbst erreichen konnte, aber eine kollektive Verbesserung war nur durch die endliche Vereinigung mit Gott zu erhoffen.
    Der durchschnittliche Laie gewann seine Bildung nur mit den Ohren, durch öffentliche Vorträge, Mysterienspiele und den Vortrag von belehrenden Balladen und Geschichten. Während Enguerrands Lebzeiten kam aber als Bildungsquelle vermehrt die Lektüre auf, was mit der größeren Verbreitung von Manuskripten
zusammenhing. Allgemeinbildende Bücher aus dem 13. Jahrhundert, die französisch geschrieben (oder aus dem Lateinischen übersetzt) wurden, waren die literarischen Quellen, die jedermann zugänglich waren. Im 14. Jahrhundert verlegten sich die gebildeten Schichten auf eine andere Lektüre, so zum Beispiel auf die Bibel, Romane, Tierbücher, Satiren, astronomische Bücher, erdkundliche Bücher und auf verschiedene Themen wie politische Geschichte, Kirchengeschichte, Rhetorik, Rechtsgeschichte, Medizin, Alchimie, Falkenjagd, Turnierkunst, Musik und andere. Die Allegorie war die bestimmende Stilform. Von jedem Ereignis des Alten Testaments glaubte man, daß es auf eine Entsprechung der damaligen Zeit verwies. Jede Erscheinung der Natur enthüllte eine verborgene Bedeutung der christlichen Lehre. Allegorische Figuren wie die Gier, die Vernunft, die Höflichkeit, die Liebe, der falsche Schein, das Gute, die Freude und das Böse bevölkerten die Geschichten und die politischen Abhandlungen.
    Geschichten von großen Helden, von Brutus und König Arthur, von der »großen Fehde« Griechenlands mit Troja, von Alexander und Julius Cäsar, von Karl dem Großen und Roland, die gegen die Sarazenen kämpften, und davon, wie Tristan und Isolde sich liebten und wie sie sündigten, das waren die Lieblingsthemen des Adels. Was derbere Themen nicht ausschloß. Die Fabliaux , die lästerlichen und schlüpfrigen Geschichten des Alltags, wurden in den Kneipen ebenso wie in den Hallen der Adelshäuser erzählt.
    Aristoteles lieferte die Basis für die politische Philosophie, Ptolomäus für die Naturphilosophie, Hippokrates und Galen für die Medizin. In zunehmendem Maße fanden auch zeitgenössische Schriftsteller ihr Publikum. Zu Dantes Lebzeiten bereits wurden seine Verse von den Schmieden [Ref 54] und Eseltreibern gesungen. Das Anwachsen des Lesehungers veranlaßte die Signoria von Florenz, auf Anfrage der Bürger im Laufe des Jahres Vorträge zum Werk Dantes anzubieten und dafür sogar die Summe von 100 Goldflorin aufzubringen, um den Vorleser zu bezahlen, der seinen Vortrag täglich, außer an Festtagen, zu halten hatte. Für diese Aufgabe wurde Boccaccio verpflichtet, der die erste Dantebiographie geschrieben hatte und eine vollständige Abschrift der Göttlichen Komödie von eigener Hand Petrarca zum Geschenk gemacht hatte.

    Um die Jahrhundertwende wurden in einem italienischen biographischen Lexikon die längsten Artikel Cäsar und Hannibal gewidmet, zwei Seiten waren für Dante reserviert und jeweils eine für Archimedes, Aristoteles, König Arthur und den Hunnenkönig Attila, zweieinhalb Spalten beschäftigten sich mit Petrarca, eine mit Boccaccio, kürzere Erwähnung fanden Giotto und Cimabue, drei Zeilen wiesen auf Marco Polo hin. [Ref 55]
     
    Der normale Lebensweg endete für Enguerrand abrupt im Alter von sieben Jahren, als sein Vater im Krieg gegen die Engländer in der Zeit der Schlacht von Crécy 1346 fiel – ob in dieser Schlacht selbst oder in einer anderen Begegnung, ist ungewiß.
    Wenn nun ein Lehen, das dem König eine bedeutende Anzahl von Soldaten schuldete, in die Hände einer Witwe oder eines minderjährigen Erben fiel, warf das die Frage der Herrschaft auf, und das um so mehr, da das Königreich sich bereits im Krieg befand. Als Verwalter der Baronie der Coucys für die Zeit von Enguerrands Minderjährigkeit bestellte der König seinen obersten Ratsherrn Jean de Nesles, Herr von Offémont, ein Mitglied des alten Adels, und eine andere Persönlichkeit aus dem engeren Kreis seiner Ratgeber, Matthieu de Roye, Herr von Aunoy und Führer der Bogenschützen Frankreichs, ein Amt, welches das Kommando über alle Bogenschützen und die Infanterie umfaßte. Beide waren Adelsherren der Picardie, die nicht weit von Coucy ihre Besitzungen hatten. Enguerrands Onkel Jean de Coucy, Herr von Havraincourt, wurde sein Beschützer, Lehrmeister und Ratgeber. Seine Mutter, Katharina von Österreich, durch den Tod ihres Mannes schutzlos und verwundbar, schloß schnell Abkommen

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