Der ferne Spiegel
Hundeköpfen und sechs Zehen, von einäugigen Zyklopen mit nur einem einzigen Fuß, die schnell wie der Wind liefen, von Einhörnern, die man nur fangen konnte, wenn sie im Schoß einer Jungfrau ruhten, von Amazonen, die Tränen von Silber weinten, von Panthern, die mit ihren Krallen den Kaiserschnitt beherrschten, von Bäumen, auf denen Wolle wuchs, von hundert Meter langen Schlangen, die kostbare Edelsteine als Augen hatten,
und von Schlangen, die Musik so sehr liebten, daß sie aus Vorsicht mit ihrem Schwanz ihr Ohr verstopften.
Auch der Garten Eden hatte eine irdische Existenz, die oft sogar auf Landkarten erschien. Er lag im Fernen Osten, und man glaubte, daß er von der übrigen Welt durch einen Gebirgszug, durch ein Meer oder durch eine Feuerwand getrennt sei. Im irdischen Paradies vermutete man alle möglichen Arten von Bäumen und Blumen in betörenden Farben und mit nie verfliegenden Düften, die heilende Wirkung hatten. Kein Wind noch Regen, keine Hitze und keine Kälte störten den paradiesischen Frieden; nicht Krankheit, nicht Verfall, weder Tod noch Leid hatten Zutritt. Die Bergspitze, auf der man das Paradies vermutete, war so hoch, daß sie die Umlaufbahn des Mondes berührte – aber hier begann der wissenschaftliche Verstand, sich zu regen: Das sei unmöglich, verkündete im Polychronicon ein Autor wissenschaftlicher Traktate, da es eine Verfinsterung der Erde bedeuten würde. [Ref 53]
Trotz aller Erklärungsversuche waren die Erde und ihre Erscheinungen voller Geheimnisse: Was passiert mit dem Feuer, wenn es verlischt? Warum gibt es unter den Menschen verschiedene Hautfarben? Warum bräunt die Sonne menschliche Haut, wenn sie doch Leinentücher bleicht? Wie hält sich die schwere Erde schwebend in der Luft? Wie wandern die Seelen gen Himmel? Wo befindet sich die Seele? Welches ist der Grund für Geisteskrankheiten? Der mittelalterliche Mensch fühlte sich von Rätseln umgeben, aber da es Gott gab, war er bereit anzuerkennen, daß der Mensch nicht alles über die Natur der Dinge wissen konnte, »sie sind so, wie es Gott gefällt«.
Das aber brachte die eine, unaufhörliche Frage nicht zum Schweigen: Warum erlaubt Gott das Böse, die Krankheit und die Armut? Warum hat Er den Menschen nicht zur Sünde unfähig gemacht? Warum hat Er dem Menschen nicht das Paradies gelassen? Die nie vollständig zufriedenstellende Antwort hieß, daß Gott dem Teufel seine Macht schuldete. Nach der Lehre des heiligen Augustinus, der Quelle aller Autorität, waren alle Menschen durch die Erbsünde dem Teufel ausgeliefert; daher die Notwendigkeit der Kirche und der Erlösung.
Auf diesseitigere Fragen fand man Antwort im Buch des Sidra,
der angeblich ein Nachkomme Noahs gewesen war und dem Gott die Gabe der Allwissenheit gegeben hatte. Seine Lehren waren von Gelehrten in Toledo zusammengetragen worden. Welche Sprache hört ein Taubstummer in seinem Herzen? Antwort: Die Sprache Adams, Hebräisch. Was ist schlimmer, Mord, Raub oder Überfall? Antwort: Keins von diesen, Sodomie ist das Schlimmste. Werden die Kriege jemals enden? Nein, nicht bevor die Erde zum Paradies geworden ist. Der Ursprung des Krieges lag nämlich laut Honoré Bonet im Krieg Luzifers gegen Gott, »und daher ist es nicht verwunderlich, wenn es Kriege auf dieser Welt gibt, da sie zuerst im Himmel stattfanden«.
Die Erziehung, an der Enguerrand teilgehabt haben könnte, basierte auf den »sieben freien Künsten«: Grammatik, die Grundlage aller Wissenschaften; Logik, die das Wahre vom Falschen unterscheidet; Rhetorik, die Quelle des Rechts; Arithmetik, die Grundlage der Ordnung, denn »ohne Zahlen gäbe es nichts«; Geometrie, die Wissenschaft der Vermessung; Astronomie, die edelste der Wissenschaften, weil sie mit Religion und Theologie in Verbindung stand; schließlich die Musik. Die Medizin, obwohl keine der freien Künste, war der Musik analog, weil beide sich mit der Harmonie des menschlichen Körpers beschäftigten.
Die Geschichte war begrenzt und spielte sich in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum ab. Sie begann mit der Schöpfung und würde in einer absehbaren Zukunft mit der Wiederkehr Christi enden, in der die Hoffnung der gequälten Menschheit lag. Während dieser Zeitspanne gab es für die Menschheit weder sozialen noch moralischen Fortschritt, da sein Ziel das Jenseits war, nicht die Verbesserung des Diesseits. In dieser Welt war der Mensch zu einem beständigen Kampf gegen sich selbst verurteilt, in dem er individuelle Fortschritte
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