Der ferne Spiegel
idealisierte, fügte dem unübersichtlichen Regelwerk, nach dem der mittelalterliche Mensch sein Leben ausrichtete, eine weitere Komplikation hinzu. In der Fassung, die das Rittertum dem Problem gab, waren Romanzen außerehelich, weil Liebe in der Ehe als irrelevant betrachtet, sogar entmutigt wurde, da die Ehe allein dynastischen Interessen diente.
Zu ihrer Rechtfertigung sagte man der hohen Minne nach, daß sie den Mann adelte, daß sie ihn in jeder Hinsicht verbesserte. Sie mahnte ihn, ein Beispiel an Güte abzugeben und das Äußerste zu tun, um seine Ehre zu wahren und die Dame seines Herzens vor aller Unbill zu schützen. Auf einer niedrigeren Ebene sollte sie ihn dazu bringen, die Zähne zu putzen und die Nägel sauberzuhalten, sich schön zu kleiden, seine Unterhaltung geistreich und amüsant,
sein Benehmen höflich zu machen, Grobheit und Arroganz zu zügeln und niemals in Anwesenheit von Damen zu streiten. Vor allem aber sollte die hohe Minne ihn mutiger und tapferer machen. Das war die Grundvoraussetzung: Die Liebe inspirierte ihn zu Heldentaten. Er wurde, wie Froissart formulierte, »zwei Männer wert«. Diese Auffassung erhöhte das Ansehen der Frauen, weniger um ihrer selbst willen als durch ihre Rolle als Inspiration männlicher Größe. Das war dennoch eine gesellschaftlich höhere Funktion, als lediglich Sexualobjekt, Mutter und Erzieherin zu sein oder – durch Heirat und Mitgift – eine bloße Vermittlerin von Besitz.
Die ritterliche Liebesaffäre bewegte sich durch die Stadien der Anbetung, der leidenschaftlichen Liebeserklärung, tugendhaften Zurückweisung von seiten der Dame, der erneuten Werbung mit Schwüren ewiger Treue, der Seufzer der Todeserwartung wegen unerfüllter Sehnsucht, der heroischen Taten, die das Herz der Dame gewannen, des Vollzugs der geheimen Liebe, wiederum gefolgt von endlosen Abenteuern, bis zum tragischen Ende.
Das bekannteste der romantischen Versepen und wohl auch eines der letzten war der Châtelain de Coucy , [Ref 59] das etwa zur Zeit von Enguerrands VII. Geburt geschrieben wurde, als das chanson de geste am Aussterben war. Der Held war nicht der Herr von Coucy, sondern ein châtelain der Burg namens Renault, der einem Dichter des 12. Jahrhunderts nachempfunden war.
In der Legende verliebt er sich leidenschaftlich in eine Dame de Fayel und wird durch endlose Manöver des Ehemannes dieser Dame in den Dritten Kreuzzug gelockt. Allein das nimmt 8266 Verszeilen ein. Mit Ruhm bedeckt, wird er von einem vergifteten Pfeil schließlich tödlich verwundet und verfaßt sein letztes Lied und einen Abschiedsbrief, die zusammen mit seinem einbalsamierten Herzen und einer ihrer Locken der Dame de Fayel nach seinem Tod geschickt werden sollen. Der eifersüchtige Ehemann läßt aber den treuen Boten ergreifen und das Herz braten und seiner Frau vorsetzen. Nachdem sie erfahren hat, was sie gegessen hat, schwört sie, daß sie nach so edler Speise niemals mehr essen wird, und stirbt, worauf ihr Mann sich selbst zu einer lebenslangen Pilgerfahrt verdammt, um Buße für seine Tat zu tun.
»Melancholisch, amourös und barbarisch« [Ref 60] waren diese Lieder, die die ehebrecherische Liebe als die einzig wahre Liebe feierten, obwohl Ehebruch in der Wirklichkeit derselben Gesellschaft als Verbrechen angesehen wurde und als Sünde. Wenn der Ehebruch entdeckt wurde, entehrte er die Dame und befleckte den Namen des Ehemannes. Es galt als selbstverständlich, daß er das Recht hatte, beide, die untreue Frau und ihren Liebhaber, zu töten. In diesem Kodex paßt nichts zusammen. Die doch vermeintlich sittlich erhöhende und gefeierte Liebe ist auf Sünde gegründet und beschwört gerade die Ehrlosigkeit herauf, die sie dem Manne nehmen sollte. Die hohe Minne war ein noch unentwirrbareres Durcheinander moralischer Grundsätze als die Erhebung von Zinsen. Sie blieb künstlich, eine literarische Konvention, eher phantastisch als real (wie heute die Pornographie), sie existierte mehr als Gesprächsgegenstand denn als Realität.
Die Wirklichkeit war normaler. Wie von La Tour Landry überliefert, waren seine amourösen Ritterbrüder alles andere als treu, ehrlich und höflich. Er erzählt, wie er und seine Freunde als junge Männer auf ihren Reisen um die Gunst der Damen warben. War die eine nicht zu bewegen, versuchten sie es bei der nächsten. Sie betrogen die Damen mit schönen Worten und Schmeicheleien und schworen falsche Eide, »denn überall, wo es nur ging, wollten sie ihr Vergnügen
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