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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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mit den zahlreichen Brüdern und Schwestern ihres Mannes, die das Besitztum zu seinen Lebzeiten gemeinsam gehalten hatten. Sie bestätigte deren Besitz an Burgen und Rittergütern, und Enguerrand, der keine Brüder und Schwestern hatte, wurde als Erbe des Hauptbesitzes bestätigt, der die Besitzungen von Coucy, Marle, La Fère, Boissy-en-Brie, Oisy-en-Cambrésis und deren Städte und Niederlassungen umfaßte.
    1348 oder 1349 heiratete Enguerrands Mutter erneut; vermutlich aufgrund einer Wahl, die sie oder ihre Familie getroffen hatte,
wurde sie mit Konrad von Magdeburg verbunden, den man auch Hardeck nannte. Die Ehe blieb kinderlos. Innerhalb eines Jahres starben sie und ihr Mann, Opfer jener großen Katastrophe, die Europa traf und Enguerrand als Waisen zurückließ.
    Katharina soll zu ihren Lebzeiten mit großer Sorgfalt auf die Erziehung [Ref 56] ihres Sohnes geachtet haben. Sie wünschte, daß er sich »in den Künsten, in der Literatur und in den seinem Stand entsprechenden Wissenschaften« hervortun sollte, und häufig soll sie ihn an die »Tugenden und das hohe Ansehen seiner Vorfahren« erinnert haben. Da diese Bekundungen aus einer Chronik des 16. Jahrhunderts über Enguerrand de Coucy stammen, sind sie vielleicht nur eine konventionelle Floskel, aber andererseits könnten sie auch wahr sein. Wie andere mittelalterliche Kindheiten ist die von Enguerrand ein unbeschriebenes Blatt. Nichts ist von ihm bekannt, bis er im Alter von achtzehn Jahren 1358 unvermittelt die Bühne der Geschichte betritt.
     
    Über das Rittertum, die Kultur, in der er aufwuchs, ist dagegen viel bekannt. Das Rittertum war mehr als ein bloßer Verhaltenskodex für Liebe und Krieg, es war ein moralisches System, welches das gesamte Leben der Adligen bestimmte. Es entwickelte sich in der Zeit der großen Kreuzzüge des 12. Jahrhunderts und zielte darauf, die religiösen Antriebe des Menschen mit den kriegerischen zu vereinigen und den kämpfenden Menschen mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen. Da die Lebensweise eines Ritters mit der christlichen Lehre ebensowenig übereinstimmte wie die der Händler, mußte die Kirche eine moralische Fassade finden, die es einerseits der Kirche erlaubte, die Krieger mit ruhigem Gewissen zu tolerieren, andererseits den Kriegern ermöglichte, ihren Wertvorstellungen ohne Gewissensbisse zu dienen. Mit Hilfe gelehrter Benediktiner wurde eine Doktrin entwickelt, die den Schwertarm des Ritters theoretisch in den Dienst der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit, der Kirche, der Witwen und Waisen, der Unterdrückten stellte. Die Ritterschaft wurde im Namen der Dreifaltigkeit nach einer Zeremonie der Läuterung, Beichte und Kommunion verliehen.
    Gewöhnlich wurde eine Reliquie in das Heft des Schwertes eingelassen,
damit der Rittereid, der mit dem Schwert in der Hand gesprochen wurde, im Himmel gehört wurde. Ramon Lull, ein berühmter Verherrlicher des Rittertums, konnte infolgedessen behaupten, daß »Gott und das Rittertum in Einklang miteinander sind«.
    Aber genau wie das Kaufmannstum konnte auch das Rittertum von der Kirche nicht im Zaum gehalten werden. Es brach aus den abgesegneten Bahnen aus und entwickelte seine eigenen Gesetze. Die Tapferkeit, jene Mischung aus Mut, Stärke und Geschicklichkeit, die einen »chevalier preux« ausmachte, war das Wichtigste. Ehre und Treue, zusammen mit der Höflichkeit, der Verhaltensweise, die später Ritterlichkeit genannt wurde, waren die Ideale, die hohe Minne aber der Geist des Rittertums. Die hohe Minne verpflichtete ihren Anhänger zu einer chronisch amourösen Verfassung, was im Grunde darauf zielte, den Umgangston zu verbessern, den Ritter höflich, galant und heiter zu machen. Die Großzügigkeit war eine notwendige Ergänzung. Geschenke und Gastfreundlichkeit waren die Kennzeichen eines wirklichen Herrn und hatten den praktischen Sinn, andere Ritter dazu zu bringen, unter dem Banner und dem Wohlwollen eines großen Adelsherrn zu kämpfen. Troubadoure und Chronisten, die von dieser Großzügigkeit lebten, machten sie zur Haupttugend des Ritters, was zu unsinnigen Extravaganzen und leichtfertiger Verschuldung führte.
    Tapferkeit war kein leeres Wort, denn in ihrer Funktion als Kämpfer brauchten die Ritter Härte und Ausdauer. Mit einer dreißig Kilo wiegenden Rüstung auf dem Pferderücken oder zu Fuß zu kämpfen, mit dem Gegner bei vollem Galopp zusammenzustoßen, während man eine fast sechs Meter lange Lanze im Arm hielt, mit Schwert und Streitaxt

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