Der ferne Spiegel
Hiebe auszutauschen, die einen Schädel spalten oder ein Glied abtrennen konnten, ein halbes Leben im Sattel zu verbringen, bei jedem Wetter und häufig tagelang, das war nicht die Arbeit eines Schwächlings. Härte und Furcht waren Teil dieses Lebens. »Ritter im Krieg müssen unablässig ihre Furcht hinunterschlucken«, schrieb der Freund und Biograph von Don Pero Niño, »dem unbesiegten Ritter« des späten 14. Jahrhunderts. »Sie setzen sich jeder Gefahr aus. Sie weihen ihre Körper der Erfahrung des Lebens im Tod. Schimmeliges Brot und Zwieback, gebratenes
oder auch rohes Fleisch, den einen Tag genug zu essen, den anderen Tag nichts, wenig Wein oder gar keinen, Wasser aus dem Tümpel oder aus dem Faß, schlechte Unterkünfte, eine Zuflucht aus Zweigen oder Zelten, ein schlechtes Bett, wenig Schlaf unter dem Gewicht der Rüstung, mit Eisen beladen, der Feind einen Bogenschuß entfernt. ›Achtung! Wer da? Zu den Waffen! Zu den Waffen!‹ Mit der ersten Morgendämmerung ein Alarm, gegen Abend die Trompete. ›Auf die Pferde! Auf die Pferde! Aufstellung! Aufstellung!‹ Als Späher und als Posten sind sie Tag und Nacht wach, sie kämpfen ohne Deckung als Vorhut und Spähtrupp, Wache auf Wache, Pflicht auf Pflicht. ›Da kommen sie! Da! Es sind viele – nein, doch nicht so viele – hierher – dorthin – kommt hier herüber – schlagt sie dort – Achtung – Achtung – sie kommen verletzt zurück, sie haben Gefangene – nein, doch nicht – vorwärts – vorwärts! Gebt keinen Zoll auf! Vorwärts.‹ Das ist ihr Beruf.«
Entsetzliche Wunden waren Teil des Berufes. In einer Schlacht wurde Don Pero Niño von einem Pfeil getroffen, der »Kehle und Genick zusammenknüpfte«, aber er kämpfte weiter. »Mehrere Lanzenstümpfe steckten in seinem Schild, was ihn stark behinderte.« Der Bolzen einer Armbrust »durchbohrte sehr schmerzhaft seine Nasenflügel, was ihn benommen machte, aber nicht lange«. Er drängte vorwärts und mußte zahlreiche Schwerthiebe auf Schultern und Kopf ertragen, die »manchmal den Bolzen trafen, der in seiner Nase steckte, was ihm große Schmerzen bereitete«. Als die Schlacht durch beiderseitige Erschöpfung endete, war Don Pero Niños Schild »in Stücke gehauen, sein Schwert gezahnt wie eine Säge und blutrot gefärbt . . ., seine Rüstung an verschiedenen Stellen von Lanzen durchstoßen, die in sein Fleisch eingedrungen waren und ihn bluten ließen, obwohl der Panzer sehr stark war«. Tapferkeit war nicht billig zu erkaufen.
Die Treue war die höchste Tugend des Ritters. Ihre besondere Bedeutung leitete sich aus einer Zeit her, als noch der Lehnseid zwischen Herr und Vasall die einzige Grundlage der Herrschaftsordnung war. Ein Ritter, der seinen Eid brach, wurde des Verrats angeklagt, da er die gesamte Ritterschaft verraten hatte. Das Konzept der Treue schloß aber bestimmte Niederträchtigkeiten und Hinterlistigkeiten nicht aus, solange der Ritterschwur nicht direkt
gebrochen wurde. Verschaffte sich zum Beispiel eine Gruppe bewaffneter Ritter Zutritt zu einer Stadt, indem sie sich als Verbündete ausgaben, um dann über die Einwohner herzufallen, so war das kein Bruch der ritterlichen Ehre, da die Ritter den Bürgern ja keinen Eid geschworen hatten. Der Kampf war die einzige Beschäftigung, die dem Tatendrang des Adligen entgegenkam, in der er sich austoben konnte. Er war sein Ersatz für Arbeit. Die Freizeit wurde größtenteils mit der Jagd verbracht, mit Schachspielen, Backgammon und Würfeln, mit Tänzen, Gesängen, Zeremonien und anderen Unterhaltungen. An langen Winterabenden hörte man schier endlosen Versdichtungen zu. Das Schwert bot dem arbeitslosen Adligen die Möglichkeit einer gezielten Tätigkeit, es konnte ihm Ruhm verschaffen, Ansehen und, wenn er Glück hatte, auch materiellen Gewinn. Wenn kein echter Konflikt greifbar war, zog er zu Turnieren, die die aufregendste, teuerste, ruinöseste und beliebteste Aktivität des Adligen war – und paradoxerweise auch die seiner wahren militärischen Funktion schädlichste. Der Turnierkampf konzentrierte sein Geschick und sein Interesse auf eine zunehmend formalisierte Kampfform und ließ ihm wenig Zeit, über die Strategie und Taktik der wirklichen Schlacht nachzudenken.
Die Turnierkämpfe sind in Frankreich entstanden und wurden von daher überall als »französischer Kampf« (conflictus Gallicus) bekannt. Zu Beginn wurden sie ohne Regeln und Teilnehmerlisten abgehalten. Erst später wurde dieser Zusammenstoß von Gegnern,
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