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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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und zwangen sie, sie zu essen. Danach nähten sie die Frau und den Mönch mit schweren Steinen in einen Sack und ertränkten beide in einem Fluß.« Eine andere Geschichte erzählt von einem Ehemann, der seine Frau zurückholte, die nach einem Ehestreit in das Haus ihrer Eltern geflohen war. Auf dem Heimweg war er gezwungen, in einer Stadt zu übernachten. Dort wurde seine Frau »von einer großen Horde junger Leute, die wild vor Lüsternheit waren«, angegriffen und vergewaltigt. Sie starb aus Kummer und Scham. Ihr Mann schnitt daraufhin ihren Körper in zwölf Teile und schickte die mit einem Begleitbrief an die Freunde seiner Frau, um sie zur
Rache an den Vergewaltigern aufzustacheln. Die Freunde der Frau versammelten sich mit ihrem gesamten Gefolge, griffen die Stadt, in der die Vergewaltigung geschehen war, an und erschlugen alle Einwohner.
    Die Gewalt war nicht auf Individuen beschränkt. Die Folter war von der Kirche autorisiert und wurde regelmäßig von der Inquisition benutzt, um Ketzereien aufzudecken. Die zivile Gerichtsbarkeit belegte als schuldig überführte Angeklagte mit Strafen wie Handabhacken, Ohrenabschneiden, sie ließ ihre Opfer verhungern, verbrennen, häuten und in Stücke reißen. Es war eine alltägliche Sache, Verbrecher gegeißelt, gestreckt und am Schindanger erhängt zu sehen. Man sah abgeschlagene Köpfe und gevierteilte Körper, die auf Stangen über der Stadtmauer zur Schau gestellt wurden. In jeder Kirche gab es die Bilder von Heiligen, die die verschiedensten grausamen Martyrien erlitten hatten – durch Pfeile, Speere, Feuer, Dornen –, alles war in Blut getaucht. Blut und Grausamkeit waren ein allgegenwärtiges Element der christlichen Kunst, sogar ein zentrales, denn Christus wurde zum Erlöser und die Heiligen heilig nur dadurch, daß sie unter den Händen ihrer Mitmenschen Gewalt erlitten hatten. [Ref 116]
    Auf den Dörfern vergnügten sich die Bewohner bei Wettkämpfen, in denen sie mit auf den Rücken gebundenen Händen eine angenagelte Katze durch Kopfstöße töten mußten, wobei sie Gefahr liefen, daß ihnen das Tier in seiner Panik die Wangen aufriß oder die Augen auskratzte. Ein anderes Spiel bestand darin, daß ein Schwein unter Keulenschlägen und dem Lachen der Zuschauer durch ein Gehege getrieben wurde, bis es leblos zusammenbrach. Die Menschen des Mittelalters waren an physische Leiden und Verletzungen gewöhnt, und sie wurden durch die Darstellung von Gewalt und Schmerz nicht abgestoßen, sondern genossen sie vielmehr. Die Bürger von Mons kauften ihrer Nachbarstadt einen zum Tode Verurteilten ab, damit sie das Vergnügen hatten, seiner Vierteilung zusehen zu können. Es mag sein, daß die wenig zärtliche mittelalterliche Kindheit Erwachsene hervorbrachte, die andere Menschen ebensowenig achteten, wie sie selbst in den formenden ersten Jahren geachtet worden waren.

     
    Nach seinem unerhörten Anschlag wurde Karl von Navarra zum Mittelpunkt einer Adelsgruppe, die bereit war, sich an einer Protestbewegung gegen das regierende Haus der Valois zu beteiligen. Der alte Widerspruch zwischen der Krone und den Baronen war durch Philipps und Johanns Aktionen gegen die des Verrats verdächtigten Adligen und durch die militärischen Demütigungen seit Crécy neu belebt worden. Die Landbesitzer, die unter der Bauernflucht und zurückgehenden Einkünften litten, machten für viele ihrer Mißgeschicke die Krone verantwortlich. Sie wandten sich gegen den finanziellen Druck, der vom König und seinen verachteten Ministern ausging, und strebten nach umfassenden Reformen und größerer politischer Selbständigkeit. Von seiner Basis in der Normandie aus konnte sich Karl zum Zentrum einer Widerstandsgruppe machen und begann, seine Absichten lauthals in die Welt zu krähen.
    »Gott weiß, daß ich es war, der mit Gottes Hilfe Karl von Spanien umgebracht hat«, schrieb er in einem Brief an Papst Innozenz VI. [Ref 117] Er erklärte den Mord am französischen Oberbefehlshaber zu einer gerechten und unabweisbaren Antwort auf die königlichen Übergriffe, drückte seine Verehrung für den Heiligen Stuhl aus und erkundigte sich nach dem päpstlichen Wohlbefinden. Karl war bereit, die Engländer zu unterstützen, wenn sie ihm in dem Kampf um seine Besitzungen in der Normandie halfen, und zu diesem Zweck brauchte er den Papst als Vermittler. In einem Brief an König Eduard schrieb er, daß er mit der Hilfe seiner Burg und seiner Soldaten in der Normandie König Johann so schaden könnte,

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