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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Litauen tragen sollten.
    Lancaster war ebenso religiös wie kämpferisch. Er schrieb ein Buch auf französisch (immer noch die Sprache des englischen Hofes), in dem in allegorischer Form die Wunden seiner Seele – das heißt seine Sünden – Christus, dem göttlichen Arzt, dargebracht werden. Jeder Körperteil wies eine allegorische Wunde auf, und jedes Heilmittel entsprach einem religiösen Symbol. Dabei entpuppte sich dieser hohe Herr des 14. Jahrhunderts als ein Mann, der die Eleganz seiner spitzen Schuhe im Steigbügel bewunderte und bei Turnieren seine Beine streckte, um die Damen zu beeindrucken. Er kritisierte sich aber auch selbst, weil er sich vor dem Gestank der Armen und Kranken ekelte und weil er mit allen Mitteln versuchte, aus seinen Lehen Geld und Besitz herauszupressen.
    Bei der Invasion Frankreichs von 1355 schloß sich König Eduard Lancaster an. Sie segelten nach Calais statt dem ursprünglich geplanten
Cherbourg und landeten am 2. November 1355. Sie sammelten ihre Streitmacht von dreitausend Reisigen, zweitausend berittenen Bogenschützen und vielleicht ebenso vielen Fußsoldaten und brachen auf, um die Schlacht mit dem König von Frankreich zu suchen. Zunächst aber verwüsteten sie auf ihrem Marsch den Pas de Calais, Artois und die Picardie.
    Der König von Frankreich hatte »feierlich und öffentlich« den Arrière-ban , den allgemeinen Aufruf an alle Männer zwischen achtzehn und sechzig, proklamiert. Vielleicht wegen der spärlichen Antwort auf diesen Ruf war er während des Sommers des öfteren in Paris und allen wichtigen Städten des Königreiches wiederholt worden – »besonders in der Picardie«. Da größtenteils Männer von zweifelhafter militärischer Tauglichkeit geschickt wurden, war es dem König lieber, die Entschädigungszahlungen einzuziehen als die gestellten Männer in sein Heer eingliedern zu müssen. Er versuchte deshalb, bestimmte Kriterien für die körperliche Eignung festzusetzen, und schickte alle nach Hause, die ihnen nicht entsprachen. Das Aussortieren und die Zusammenstellung eines schlagkräftigen Heeres kostete Zeit, und aufgrund der weitverbreiteten Unzufriedenheit mit dem König hatten es viele Adlige nicht eilig, zum Heer zu stoßen. Die Armee, die Johann im November nach Norden gegen die Engländer führte, war unvollständig.
    Enguerrand [Ref 120] de Coucy VII., fünfzehn Jahre alt, war in dieser Armee. Es ist nicht überliefert, was er tat, nur, daß er sich im Bataillon von Moreau de Fiennes befand, der eine Gruppe von »Baronen der Picardie« anführte und später Marschall von Frankreich werden sollte. Enguerrand war in guter Gesellschaft: Matthieu de Roye, Enguerrands Vormund, war der Befehlshaber der Armbrustschützen, Geoffroy de Charny war als »der vollkommene Ritter« bekannt, und auch Marschall Arnould d’Audrehem war kein Unbekannter. Zu dem Bataillon gehörten die Bürger von Paris, Rouen und Amiens.
    Der Feldzug, der Enguerrands erste Kriegserfahrung war, bot wenig Stoff für heroische Legenden. Die französische Heerschar stand vom 5. bis 7. November in Amiens und zog dann nordwärts nach St. Omer, wo sie am 11. des Monats eintraf. Sie ließ die Engländer links liegen, die zur gleichen Zeit südwärts nach Hesdin
marschierten. Die Armeen beschnüffelten und umkreisten einander, wechselseitig forderten sich die Könige zum Kampf – »Mann gegen Mann oder Streitmacht gegen Streitmacht«, so lautete die Herausforderung König Johanns –, die der Herausgeforderte mit ornamentalem Wortreichtum ablehnte. Weder Johann noch Eduard waren wirklich entschlossen, die Schlacht aufzunehmen. Johanns zentrale militärische Absicht war es, die Engländer durch Ausplünderung des eigenen Landes vom Nachschub abzuschneiden. Das ging zu Lasten der örtlichen Bevölkerung, die nun einem Winter ohne Vorräte entgegensah und die ihre Kriegerklasse nicht als Beschützer, sondern als Zerstörer erlebte.
    Johanns Politik der verbrannten Erde zwang die Engländer, sich wegen ihrer Nachschubschwierigkeiten wieder an die Küste zurückzuziehen. Vier Tage lang hatten sie außer Wasser keine anderen Getränke, was in einem Zeitalter, da Wein oder Bier ein fester Bestandteil der Mahlzeiten war, wie ein Notstand erschien. Außerdem war es den Franzosen mit Geld und Briefen gelungen, die Schotten zu einigen Grenzverletzungen gegen England zu bewegen. Diese neue Bedrohung und die Aussicht auf einen Winter ohne Alkohol veranlaßten Eduard und Lancaster schließlich, sich

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