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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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verließen, seufzten schrecklich.« Unter der fliegenden Streitaxt des Königs häuften sich die Erschlagenen. Er hatte seinen Helm verloren und blutete aus zwei Wunden im Gesicht. »Ergebt Euch! Ergebt Euch!« schrien verschiedene Stimmen, »oder Ihr seid ein toter Mann!« Inmitten heiserer Schreie und wilden Kampfgetümmels schlug sich ein exilierter Franzose, Denis de Morbecque, wegen Mordes verbannt und nun in englischen Diensten, zum König durch und rief: »Sire, ich bin ein Ritter von Artois. Ergebt Euch mir, und ich bringe Euch zum Prinzen von Wales. « König Johann reichte ihm seinen Handschuh und ergab sich.
     
    Nach dem Verlust des Königs löste sich das restliche französische Heer auf. Die, die konnten, flohen in die Mauern des nahe gelegenen Poitiers, um der Gefangennahme zu entkommen, wild verfolgt von Engländern und Gasconen, deren Beutegier die Erschöpfung besiegte. Noch unter den Stadtmauern von Poitiers versuchten sie, Gefangene zu machen. Einige der Franzosen drehten den Spieß um und nahmen ihre Verfolger gefangen.
    Die Niederlage beraubte Frankreich der Führung. Außer dem König waren der Constable, beide Marschälle und der Träger der »Oriflamme« entweder gefallen oder in Gefangenschaft geraten. Die Sieger hatten einen Erzbischof, dreizehn Grafen, fünf Vicomtes, einundzwanzig Barone und Bannerherren und zweitausend Ritter, Knappen und Reisige gefangengenommen. Zu viele, um sie mitzuführen. Die meisten wurden mit der Verpflichtung entlassen, bis Weihnachten ihr Lösegeld nach Bordeaux zu bringen.
    Die Zahl der Getöteten betrug viele tausend, allein 2426 entfielen auf den Adel. Daß diese Zahl der der Gefangenen entsprach oder sie noch überstieg, deutet auf die Härte des Kampfes, aber zum Unglück Frankreichs machten die, die geflohen waren, einen
größeren Eindruck auf die Franzosen als die, die gekämpft und ihr Leben gelassen hatten. Die Grande Chronique bekennt offenherzig, daß Bataillone »schändlich und feige geflohen sind«, und die Chronique Normande schließt düster, »daß die Opfer dieser Schlacht nicht so groß waren wie die Schande«.
    Das war die ruinöse Hinterlassenschaft von Poitiers. Von den Stadtmauern konnten die Bürger beobachten, wie die Kämpfer unrühmlich zurückwichen und hektisch flohen, und ihre Berichte verbreiteten sich in Frankreich. Der Rückzug des Bataillons des Herzogs von Orléans, der schließlich die Niederlage auslöste, ist kaum anders zu erklären, als daß die Unzufriedenheit mit dem König die Adligen kampfesunwillig gemacht hatte. Es gab sicherlich viele, die auf eine Niederlage des Königs hofften, und es bedurfte sicher nur weniger Schreie, um eine Panik auszulösen. Aber was auch immer der Grund gewesen sein mag, das Ergebnis war ein tiefes Mißtrauen des Volkes gegen den Adelsstand und eine schwere Erschütterung des Glaubens an die Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft.
    Der Widerwille des Volkes zeigte sich sehr schnell, als die Adligen zurückkehrten und versuchten, die von ihnen geforderten Lösegeldsummen einzutreiben. Sie wurden »von den Gemeinen so gehaßt und verachtet«, berichtet Froissart, daß es ihnen oftmals schwerfiel, Zutritt zu den Städten und sogar zu ihren eigenen Besitztümern zu erhalten. Bauern eines Dorfes in der Normandie, das dem Sire de Ferté-Fresnel [Ref 124] gehörte, riefen, als sie ihren Herrn nur in Begleitung eines Knappen und eines Dieners, aber ohne sein Schwert vorbeireiten sahen: »Dies ist einer der Verräter, die vor dem Feind geflohen sind«, stürzten sich auf die drei Reiter, zerrten ihren Herrn vom Pferd und verprügelten ihn. Einige Tage später kehrte er, nun besser bewaffnet, zurück, um Rache zu nehmen, und tötete dabei einen Dorfbewohner. Obwohl dieser kleine Ausbruch schnell erstickt war: Er bedeutete nichts Gutes. Viele Adlige sahen sich bei ihrer Rückkehr Spott und Feindseligkeiten gegenüber und hatten Mühe, die traditionelle Hilfe der Bevölkerung beim Aufbringen von Lösegeldern zu erreichen. Um die nötigen Mittel herbeizuschaffen, waren viele gezwungen, ihr Mobiliar zu verkaufen oder ihre Leibeigenen gegen Bezahlung freizulassen.
Eine erhebliche Anzahl von finanziell ruinierten Rittern war so ein Nebenprodukt der Schlacht von Poitiers.
    Der Schrei »Verräter« war nicht nur eine lokale Erscheinung, sondern der hilflose Erklärungsversuch eines ganzen Volkes für das Unerklärliche. Es war die ewige Anklage der Verschwörung, eine mittelalterliche

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