Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
Vom Netzwerk:
Dolchstoßlegende. Wie sonst hätten der mächtige König Frankreichs und die Heerscharen der französischen Ritterschaft von einer Handvoll »Bogenschützen und Straßenräuber« besiegt werden können, wenn nicht durch Verrat? Ein zeitgenössischer Spottvers, der »Die Klage über die Schlacht von Poitiers« genannt wurde, behauptete ausdrücklich:
    Der sehr große Verrat, den sie lange verbargen, wurde in jener Heerschar aufs klarste enthüllt. [Ref 125]
    Die »Klage« hatte für König Johann II. nur Lob, da er bis zuletzt neben seinem jungen Sohn gekämpft hatte. In der Volksmeinung wurde er zum Helden. Wie unfähig er als König und Heerführer auch immer gewesen sein mochte, seine persönliche Tapferkeit überstrahlte alles und wies Frankreich einen Weg, seine Ehre zurückzugewinnen.
    Nachdem die Bürger von Poitiers die Leichen vor den Toren der Stadt begraben hatten, verordnete der Bürgermeister Trauer um den gefangenen König und verbot jede Feier oder Festlichkeit. In Languedoc untersagten die Generalstände für ein Jahr – solange der König nicht zurückgekehrt war –, Gold oder Silber, Perlen oder Festkleider zu tragen. Der Thronfolger und seine Brüder wurden nicht in die allgemeine Anklage des Adels einbezogen, obwohl sie mit ihrem jüngeren Bruder Philipp zu ihrem Nachteil verglichen wurden. Karl wurde bei seiner Rückkehr nach Paris »ehrenvoll vom Volk begrüßt, voller Kummer über die Gefangennahme seines Vaters, des Königs«. Sie glaubten, so überliefert Jean de Venette, daß er irgendwie den Vater befreien würde, um so »das ganze Land Frankreich zu retten«.
    Warum diese Flucht? Warum diese Niederlage? Villani in Italien erschien das außerordentliche Ereignis »unglaublich«. Von einer Reise zurückgekehrt und in Mailand über den Stand der
Dinge informiert, war Petrarca nicht weniger erstaunt. Sogar die Engländer selbst hielten ihren Sieg für ein Wunder. Militärisch gesehen war die zahlenmäßige Überlegenheit der französischen Streitmacht durch eine unfähige Führung neutralisiert worden. Die zweitausend genuesischen Armbrustschützen kamen einigen Überlieferungen zufolge überhaupt nicht zum Einsatz, aber es gibt auch Quellen, die das Gegenteil behaupten. Die Ineffektivität der französischen Bogenschützen im Vergleich zu den englischen während des gesamten Jahrhunderts ist ein Rätsel. Dörfer und Städte in Frankreich hielten sich Einheiten von Bogenschützen, die noch durch zusätzliche Privilegien angespornt wurden, und die Männer von Beauvaisis in der Nachbarschaft der Picardie betrachteten sich als die besten Bogenschützen der Welt. Aber sie waren nie für eine effektive Zusammenarbeit mit den Rittern und ihrem Gefolge ausgebildet worden, weil das französische Rittertum es hochmütig ablehnte, seine beherrschende Rolle auf dem Schlachtfeld mit Gemeinen zu teilen.
    Auf der anderen Seite war der Ausgang der Schlacht ein Triumph der englischen Generalität, deren Können Erschöpfung und zahlenmäßige Unterlegenheit aufwog. Der Schwarze Prinz konnte Befehle geben, die auch befolgt wurden, und aufgrund seiner Führungsqualitäten konnte er sich auf seine Bataillonskommandeure verlassen und dadurch den Schlachtverlauf kontrollieren. Stets hielt er sich da auf, von wo er das Geschehen überblicken und die Truppenbewegungen dirigieren konnte, ihm dienten erfahrene und abgehärtete Soldaten, und er hatte zwei Grundbedingungen jedes Sieges auf seiner Seite: keine Rückzugsmöglichkeit und ein Wille, der seine Männer zum Letzten trieb. Als Befehlshaber war der Schwarze Prinz in den Worten Froissarts »mutig und grausam wie ein Löwe«.
    Von den Anstrengungen der Schlacht erschöpft und darauf bedacht, seine königliche Geisel aus der Reichweite jedes Befreiungsversuches zu bringen, machte der Schwarze Prinz keinen weiteren Versuch, sich mit den Truppen Lancasters zu vereinigen. Er wandte sich vielmehr sofort nach Süden gen Bordeaux, einen gewaltigen Troß mit Beute hinter sich. Nachdem die französischen Adligen nach der Niederlage vom Dauphin entlassen worden waren, zerstreuten
sie sich schnell, um ihren eigenen Besitz zu schützen. Niemand raffte sich zu einem Befreiungsversuch auf dem langen Marsch der Engländer nach Bordeaux auf. Die Kardinäle folgten dem Prinzen, um erneut Friedensverhandlungen in Gang zu bringen. Während noch über die Bedingungen für einen Waffenstillstand verhandelt wurde, waren Gasconen und Engländer schon damit beschäftigt, darüber zu

Weitere Kostenlose Bücher