Der ferne Spiegel
Königs gebracht und war unter Johann II. sogar Mitglied des königlichen Rates geworden. Er besaß eine für die damalige Zeit umfangreiche Bibliothek von 76 Bänden, von denen 48 von zivilem und kanonischem Recht handelten – was sein Interesse an Regierungsproblemen widerspiegelte. Sieben Bände waren Sammlungen von Predigten, an denen er sich rhetorisch schulte. Er wollte Kanzler werden und haßte den König, weil der ihm dieses Amt nicht gab, und er haßte den amtierenden Kanzler, weil er es innehatte.
Der Dauphin Karl, so schwächlich er schien, besaß unter seinem kränklichen Äußeren einen harten Kern an Widerstandskraft und Intelligenz, die ihm unter diesen widrigen Umständen zu Hilfe kamen. Obwohl zu dieser Zeit noch nicht krank, war er blaß und dünn, hatte schmale, scharfe Augen, dünne Lippen, eine lange spitze Nase und einen unproportionierten Körper. Seine äußere Erscheinung war alles andere als die eines Lebemannes, und doch
mußte er die beiden Bastarde, die man ihm zuschrieb, im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren gezeugt haben. Zum Krieg hatte er ebensowenig Begabung wie Lust, statt dessen widmete er sich geistiger Arbeit, was für die Herrschaft nützlich war, wenn auch ganz untypisch für einen Valois. Tatsächlich gab es auch Klatsch über seine Mutter (die sechzehn Jahre alt gewesen war, als sie den dreizehnjährigen Johann heiratete), Gerüchte, die andeuteten, daß ihr ältester Sohn gar kein Valois war. Sicher ist, daß er Johann nicht im geringsten ähnelte.
Ihm fiel in dem Chaos, das Poitiers hinterlassen hatte, die Aufgabe zu, die Interessen der Krone zu verteidigen. Auf Anraten der väterlichen Minister wies er die Forderungen der Stände zurück und erklärte sie für entlassen. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme verließ er Paris. Das Komitee lehnte die Entlassung der Stände ab und versammelte sich am Tag nach seiner Abreise im November 1356, um eine flammende Ansprache Robert le Coqs zu hören, der die königliche Mißwirtschaft anprangerte und tiefgreifende Reformen forderte: »Schande über jeden, der jetzt zurückweicht«, rief er aus, »denn niemals war die Zeit so günstig wie heute!« [Ref 127]
Damit war das Vorhaben, die Monarchie in ihrer Macht zu begrenzen, offen ausgesprochen. Schon kurz nach dieser Herausforderung aber wurde deutlich, daß sich die Stände selbst nicht einig waren. Die oberste Schicht des dritten Standes, die aus Händlern, Manufakturbesitzern, Rechtsanwälten, Beamten und Hoflieferanten bestand, hatte mit der Arbeiterklasse nicht mehr gemeinsam, als daß beide nicht zum Adel gehörten. Diese soziale Schranke zu überschreiten war das Ziel jedes bürgerlichen Magnaten. Während er nach Adelstitel und Landbesitz strebte, ahmte er die Adligen in Kleidung, Verhalten und Wertvorstellungen nach. Hatte er sein Ziel erreicht, teilte er auch das adlige Vorrecht der Steuerfreiheit, keine geringe Vergünstigung.
Zwischen den bürgerlichen Hofbeamten und den Kaufleuten wie Etienne Marcel wiederum gab es ebenfalls wenige Gemeinsamkeiten, obwohl beide Gruppen an kapitalistischen Unternehmen beteiligt waren. Als der Kapitalismus durch die Banken und deren Kreditvergabe in der Staatswirtschaft an Bedeutung gewann, verlor er auch seine Anrüchigkeit. Die Theorie einer nicht auf Erwerb
gerichteten Gesellschaft war längst brüchig geworden, und die Akkumulation von Mehrwert wurde nicht länger moralisch verurteilt. In der zeitgenössischen Satire Renart le Contrefait erfreuen sich die reichen Bürger eines sehr angenehmen Lebens: »Sie führen das Leben eines Adligen, tragen herrliche Gewänder, besitzen Jagdfalken und edle Pferde. Wenn die Vasallen aber in den Krieg ziehen, bleiben sie in ihren Betten; wenn die Vasallen in der Schlacht fallen, machen sie Picknick am Flußufer.«
Die führenden Bürger der Stadt wählten nun den Vorsteher der Kaufleute, Etienne Marcel, zum Oberhaupt der Stadtverwaltung, und er und seine Magistratskollegen übernahmen alle öffentlichen Aufgaben. Er befehligte auch die Polizei, die sich traditionell aus der Bürgerschaft rekrutierte. Marcels Amtssitz war das Châtelet, das gleichzeitig als Stadtgefängnis diente und am rechten Seineufer direkt an der Grand Pont lag, die als einzige Brücke auf die Ile-de-la-Cité führte. [Ref 128]
Die Stadt, die Marcel damals zu regieren hatte, erstreckte sich etwa von den heutigen Grands Boulevards auf dem rechten Seineufer bis zum Jardin du Luxembourg auf dem linken und in
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